Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
schüttelte den Kopf.
    »Vier Minuten!«
    »Das hier ist Monstrumologie, Will Henry«, flüsterte der Doktor mir scharf zu. »Das ist es, was wir machen.«
    Ich nickte ein zweites Mal, holte tief Luft und tauchte, indem ich mich zwang, die Augen offen zu lassen, mit den Händen in den Brustkorb ein. Die Brusthöhle war überraschend kalt – kälter als die Luft im Zuschauerraum. Ihr Knochenhautüberzug machte die Rippen glitschig, aber als ich erst einmal einen guten Griff hatte, brachen sie leicht ab; es bedurfte keiner größeren Anstrengung, als einen Stock entzweizubrechen.
    »Siehst du das Herz?«
    »Ja, Sir.«
    »Gut. Jetzt mit beiden Händen. Es ist glitschig. Zieh es gerade zu dir hin! Das war’s! Stopp! Hier, nimm jetzt das Messer. Nein, nein. Lass die linke Hand unterm Herz, um es abzustützen; John ist Rechtshänder. Jetzt hacken – vorsichtig um Gottes willen! Hol nicht so weit mit der Klinge aus, sonst schneidest du dir noch das Handgelenk auf! Verändere den Winkel … mehr! Tiefer! Was ist, hast du etwa Angst, ihm wehzutun ?«
    »Drei Minuten!«
    »Das reicht!«, rief Warthrop. Er schob mich zurück und schnalzte mir mit den Fingern zu. »Das Messer! Bleib zurück. Wenn dir schlecht wird, dann benutze gefälligst den Abfluss, Will Henry.«
    Daraufhin fuhr der Monstrumologe damit fort, das Gesicht zu entfernen – ein Einschnitt knapp unter dem Haaransatz, dann die dünne Klinge zwischen Derma und die darunterliegende Muskulatur schieben. Es war keine leichte Arbeit. In unserem Gesicht gibt es viele feine Muskeln, die Urheber unzähliger unterschiedlicher Ausdrücke – Freude, Kummer, Wut, Liebe. Die Gesichtsmaske abzunehmen, ohne das, was darunterlag, zu molestieren, erforderte das feine Tastgefühl eines vollendeten Gelehrten der Zergliederung – mit andern Worten: eines Monstrumologen.
    »Eine Minute!«, rief Gravois. »Die Schwester kommt jetzt durch den Gang!«
    Warthrop fluchte leise. Er hatte erst bis zum Unterkieferknochen geschnitten. Er verdrehte das gelockerte rutschige Fleisch des Gesichts in der Faust und riss den Rest herunter.
    »Geschafft!« rief er. »Jetzt aus dem Fenster und das Fallrohr hoch – oder runter! Er braucht es nicht bis zur Gasse oder aufs Dach zu schaffen – solange er nur außer Sicht ist, wenn sie die Tür aufmacht.«
    Er rang nach Atem, während die Haut der anonymen Leiche aus seiner geballten Faust heraushing und auf seinen fleckigen Knöcheln geronnenes Blut wie der Morgentau auf Rosenblättern zitterte.
    »Was ist mit dem Gesicht?«, überlegte Gravois. »Und den Augen? Sie wurden nicht im Zimmer gefunden. Was hat er mit ihnen gemacht?«
    »Sie mitgenommen offensichtlich.«
    »Mitgenommen? Wie denn? Er hatte einen Krankenhauskittel an.«
    »Er hat sie draußen fallen lassen und dann wieder an sich genommen, nachdem er hinuntergeklettert war.«
    »Dieses Szenario lässt sehr wenig Spielraum für Fehler«, stellte Gravois fest. »Und Sie vermochten nicht, die Arbeit anständig zu Ende zu führen. John schon.«
    »Er war schon immer besser mit dem Messer als ich«, hielt Warthrop ihm entgegen.
    »Aber in einem wahnsinnigen, geschwächten Zustand?«
    Warthrop tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. Er war völlig zufrieden mit der Demonstration.
    »Die Wunden kommen denen Skalas nahe«, insistierte er. »Die Einschnitte an den Augenhöhlen, die dreieckigen Schnitte am Herz, die denen ähneln, die von Fängen oder Zähnen verursacht werden … das alles beweist, dass übermenschliche Kraft und Geschwindigkeit nicht erforderlich sind, um den erlittenen Schaden zuzufügen. Von Helrung irrt sich.«
    »Es gibt einen naheliegenden Einwand gegen Ihre kleine Vorführung, Pellinore«, sagte Gravois. »Das Messer. Wie konnte es einem Mann in Chanlers Zustand gelingen, das Messer einem doppelt so großen Mann zu entwinden?«
    »Er brauchte bloß zu warten, bis er eingeschlafen war.«
    »Aber Skala war wach, als die Nachtschwester am Ende ihrer Schicht hereinschaute.«
    »Dann hat er es eben früher am Abend genommen, während Skala schlief, bevor sie nach ihm sah!«, sagte Warthrop barsch. »Oder er hat Skala unter irgendeinem Vorwand an sein Bett gelockt und ihm die Tasche ausgeräumt. Er wusste, wo es aufbewahrt wurde.«
    Gravois blickte zweifelnd drein, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Er sagte nur: »Kann sein, aber denken Sie, das ist genug, um von Helrungs Theorie zu widerlegen?«
    Der Monstrumologe seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Wissen Sie,

Weitere Kostenlose Bücher