Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
stellen, dass du jedes Recht hast, dich zu verteidigen.«
    Ich sagte ihm, ich verstünde. Der Monstrumologe erteilte mir die Erlaubnis, seinen besten Freund zu töten.

SIEBENUNDZWANZIG
    »Das Wasser«

    Am Ende waren sie sich gar nicht so unähnlich, der Ort, wo er verloren gegangen war, und der Ort, wo er gefunden wurde. Sie unterschieden sich nur in ihrer topographischen Beschaffenheit.
    Die Wildnis und der Slum waren nur zwei Gesichter derselben Einsamkeit. Das graue Land der seelenzermalmenden Leere im Slum war der Hoffnung genauso beraubt wie der verbrannte, schneebedeckte Brûlé des Waldes. Die Bewohner des Slums wurden vom selben Hunger heimgesucht, von Raubtieren gejagt, die nicht weniger wild als ihre Gegenstücke in den Wäldern waren. Die Einwanderer wohnten in verwahrlosten Mietskasernen, zusammengepfercht in Räumen, die nicht viel größer als ein Wandschrank waren, und ihre Leben waren armselig und kurz. Nur zwei von fünf im Getto geborenen Kindern konnten damit rechnen, ihr achtzehntes Lebensjahr zu erleben. Die übrigen erlagen dem raubgierigen Hunger von Typhus und Cholera, dem unersättlichen Appetit von Malaria und Diphtherie.
    Es war kein Wunder, dass die Bestie diese Gegend zu ihrem Jagdrevier erkoren hatte. Hier gab es Beute, die in die Hunderttausende ging, zusammengedrängt in einem Umkreis, der in Blöcken, nicht in Meilen gerechnet wurde, Beute, die anonymer und machtloser als die isoliertesten Iyiniwok -Dorfbewohner war, aber genauso vertraut mit dem Ruf, der auf dem hohen Wind ritt und sie in der universellen Sprache der Sehnsucht rief.
    Indem sie hierhergekommen war, war die Bestie heimgekehrt.
    Durch Los hatte meine Gruppe das Böhmengetto gezogen, wo am Vortag ein kleines Mädchen namens Anezka Nováková verschwunden war, deren Verschwinden allerdings nicht der Polizei, sondern dem dortigen Priester gemeldet worden war, der es seinerseits Riis gesagt hatte.
    Anezka, so erfuhren wir, war nicht die Art Mädchen, die sich einfach fortmachen würde. Sie war außerordentlich kontaktscheu und klein für ihr Alter, eine pflichtgetreue ältere Tochter, die ihren Eltern half, für 1,20 $ am Tag Zigarren zu rollen (für Ernährung, Einkleidung und Unterbringung einer sechsköpfigen Familie). Sie war jeden Tag achtzehn zermürbende Stunden in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung eingesperrt, nur eine der vielen tausend Kontraktsklavinnen der Tabakmagnaten. Ihre Angehörigen hatten ihr Fehlen an diesem Morgen entdeckt. Irgendwann in der Nacht, während ihre Familie geschlafen hatte, war Anezka Nováková verschwunden.
    Dobrogeanu, der leidlich Tschechisch sprach, erhielt die Adresse von dem Priester, der einige Schwierigkeiten zu haben schien, unser Interesse an dem Fall nachzuvollziehen, doch der Name Riis genoss hohes Ansehen in seiner Gemeinde. Die Verwicklung des Reformers in die Angelegenheit war Garant für ihre Legitimität, auch wenn der Kleriker seinen angeborenen Argwohn Außenstehenden gegenüber nicht ablegte.
    »Sie sind keine Kriminalbeamten?«, fragte er Gravois. Einen Franzosen, der seinen gallischen Rüssel ins Viertel steckte, schien er mit besonderem Argwohn zu betrachten.
    »Wir sind Wissenschaftler«, antwortete Gravois sanft.
    »Wissenschaftler?«
    »Wie Kriminalbeamte, Vater, nur besser angezogen.«
    Anezkas Wohnung war von der Kirche aus zu Fuß zu erreichen, obwohl der Spaziergang in der verfrühten Dämmerung aufgrund der Schneeschwaden eher ein Marsch war. An jeder Ecke brannten die Feuer der Aschentonnen wie Fanale, die unseren Abstieg ins fremdartige Reich der Mietskasernen markierten und deren Rauch den Schneevorhang trübte und die Landschaftverschleierte. Wir bewegten uns in einer Welt geringer Kontraste, einem Purgatorium aus Grau.
    Auf halbem Weg den Block hinunter schlüpfte Dobrogeanu in eine kleine Lücke (Gasse konnte man es kaum nennen) zwischen zwei altersschwachen Gebäuden, ein Durchgang, der so schmal war, dass wir gezwungen waren, uns zur Seite zu drehen und vorwärtszuschlurfen, den Rücken an der einen Wand, die Nasen nur einen Zoll von der andern weg. Wir kamen auf einer freien Fläche heraus, die nicht größer als von Helrungs Salon war.
    Wir waren im Labyrinth der Hinterhäuser angekommen – so genannt wegen ihrer Lage abseits der Hauptverkehrsstraße. Dort standen vielleicht dreißig bis vierzig hastig errichtete Mietshäuser, zu dreien oder vieren auf eine Parzelle gepackt, voneinander getrennt durch krumme Passagen, eng wie Dschungelpfade,

Weitere Kostenlose Bücher