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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Jungen eine weitere Frage zu stellen, und stellte erstaunt fest, dass er nicht mehr da war. Er war so plötzlich in dem eiskalten Nebel verschwunden, wie er daraus aufgetaucht war. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Gravois’ Entschluss war bereits gefasst, aber der ältereMonstrumologe schwankte noch zwischen Vorwärtsstürmen und zum Rückzug blasen. Es war eine verlockende Spur – ein verlassenes Gebäude, das jetzt dem upír gehörte, dem engsten Verwandten von Lepto lurconis , den das Lexikon zu bieten hatte. Doch er hatte den Verdacht, dass unser Führer uns nur etwas für unser Geld hatte bieten wollen. Für weitere fünf Dollar hätte er uns möglicherweise freudig mitgeteilt, dass im Kellergeschoss eine Treppe zur Hölle zu finden war.
    »Er könnte gelogen haben«, grübelte er. »Vielleicht ist es gar nicht verlassen.«
    »Sehen Sie irgendwelches Licht darin?«, fragte Gravois. »Ich sehe keins. Monsieur Henry, deine Augen sind jung. Siehst du Licht?«
    Ich verneinte. Nur dunkle Fensterscheiben, die trüb den Schein von den Aschentonnen im Hof widerspiegelten.
    »Und wir haben keins«, legte Gravois dar. »Wozu soll es gut sein, im Dunkeln herumzutappen?«
    »Es ist noch nicht dunkel«, widersprach Dobrogeanu. »Uns bleiben noch ein paar Stunden.«
    »Vielleicht stimmen unsere Definitionen von ›dunkel‹ nicht überein. Ich schlage vor, wir lassen Monsieur Henry den Knoten durchschlagen. Was ist deine Meinung, Will?«
    So selten wurde ich nach einer gefragt, dass mir nicht einmal klar war, dass ich eine hatte, bis sie aus meinem Mund kam. »Wir sollten reingehen. Wir müssen uns Klarheit verschaffen.«
    Wir stiegen die wacklige Hintertreppe hoch, an der Spitze Dobrogeanu, dessen eine Hand im Mantel verborgen war, wo sie ohne Zweifel um den Griff seines Revolvers lag. Als Nächster kam ich und fingerte am Heft meines Messers herum, um meine Nerven zu beruhigen. Gravois bildete die Nachhut und brummte auf Französisch etwas vor sich hin, was sich wie Flüche anhörte. Ein- oder zweimal schnappte ich das Wort »Pellinore« auf.
    Die Stufen waren beängstigend immateriell und schwankten bei jedem Schritt unseres langsamen Aufstiegs, während die alten Bretter tremolierendes Quietschen und protestierendes Ächzen ausstießen. Wir erreichten den Absatz im dritten Stock, woraufhin unser Führer den Revolver aus der Tasche zog und die Tür aufstieß, und wir folgten ihm.
    Ein schmaler, schwach erleuchteter Korridor führte der Länge nach durchs Gebäude; die Wände waren mit über Jahrzehnte angesammeltem Ruß bedeckt, der Boden mit Wasserflecken und dunkleren Verunzierungen unbekannten Ursprungs gesprenkelt, vielleicht Urin oder Kot, denn der Durchgang roch nach beidem – und nach gekochtem Kohl, Tabak, Holzrauch und jenem eigentümlichen Gestank menschlicher Verzweiflung.
    Es war sehr kalt und totenstill. Wir standen einen Moment lang da, ohne uns zu bewegen, atmeten kaum und strengten unsere Ohren bis aufs Äußerste an, um irgendein Geräusch zu hören, das von Leben künden mochte. Es gab keins. Dobrogeanu flüsterte: »Ende des Flurs, letzte Tür links.«
    »Will Henry sollte die Ermittlungen führen«, forderte Gravois. »Er ist der kleinste und hat den leichtesten Tritt. Wir werden hierbleiben und sein Vorrücken decken.«
    Dobrogeanu starrte ihn unter seinen buschigen Augenbrauen heraus an.
    »Wie sind Sie nur jemals Monstrumologe geworden, Gravois?«
    »Eine Kombination aus familiärem Druck und sozialer Retardation.«
    Dobrogeanu grunzte leise. »Komm mit, Will; Gravois, bleiben Sie hier, wenn Sie mögen, aber behalten Sie diese Treppe im Auge!«
    Wir gingen vorsichtig durch den Flur weiter, wobei wir auf halbem Wege links an einem zentralen Treppenhaus vorbeikamen. Das einzige Licht kam von der Tür zur Feuertreppe, und dieses Licht wurde immer schwächer, als wir weitergingen.
    Dobrogeanu trat über ein Lumpenbündel hinweg und wies mich mit dem Finger darauf hin, damit ich nicht in der Düsterheit darüberstolperte. Zu meiner Überraschung bemerkte ich, dass das Bündel sich bewegte – und dann erkannte ich, dass die Lumpen um einen Säugling gewickelt waren, der nicht älter als ein paar Monate war und dessen zahnloser Mund sich weit zu einem mitleiderregend stummen Schrei dehnte. Seine dunklen Augen bewegten sich rastlos in den Höhlen; seine spindeldürren Ärmchen droschen auf die Luft ein.
    Ich zog den alten Mann am Ärmel und deutete auf das Kind. Seine Augenbrauen hoben sich

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