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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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erstaunt.
    »Lebt es?«, flüsterte er.
    Ich hockte mich neben das verlassene Kind. Seine kleine Hand packte meinen Finger und hielt ihn fest. Die Augen, die in dem ausgezehrten Gesicht sehr groß wirkten, hatten sich auf mich geheftet. Es betrachtete mich mit unverhohlener Neugierde, während es meinen Finger drückte.
    »Irgendwo müssen seine Eltern sein«, mutmaßte Dobrogeanu. »Komm, Will.«
    Er nötigte mich aufzustehen. Das Baby schrie nicht, als ich den Finger wegzog. Vielleicht war es zu schwach oder zu krank, um zu schreien.
    Dobrogeanu ging weiter den Flur entlang, aber ich rührte mich nicht. Ich blickte auf das Baby zu meinen Füßen hinab. Es war zu viel für mich. Wie oft hatte ich mein Schicksal beklagt, die schreiende Ungerechtigkeit des Todes meiner Eltern oder meinen Dienst an einem exzentrischen Genie, dessen dunkle Geschäfte von mir verlangten, die beängstigendsten Szenarien zu ertragen, und das unter Lebensgefahr? Doch was war meine Erfahrung verglichen mit der dieses hungrigen Kindes, das verlassen in einem dreckigen Korridor lag, der nach Kohl und Pisse stank? Was verstand ich vom Leiden?
    »Was ist los?«, fragte Dobrogeanu. Er hatte zurückgeschaut und festgestellt, dass ich mich nicht von der Stelle gerührt hatte.
    »Wir können es nicht einfach dalassen«, sagte ich.
    »Wenn wir es mitnehmen, was geschieht dann, wenn seine Eltern zurückkommen, um es zu holen? Lass es in Ruhe, Will.«
    »Wir können es zu dem Priester bringen«, sagte ich. »Er wird wissen, was damit zu tun ist.«
    In der zunehmenden Finsternis konnte ich die dunklen Augen des Kindes sehen, wie sie meine suchten.
    Die Grenzlinie zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir verfolgen, ist rasiermesserdünn. Wir werden unserer menschlichen Natur eingedenk sein.
    Meine Seele wand sich. Ich kam mir vor, als würde ich zwischen zwei großen Steinen zermahlen.
    Dobrogeanu war jetzt am Ende des Korridors. »Will!«, rief er leise. »Lass es liegen!«
    Ich biss mir auf die Lippen und trat über das Kind hinweg. Was konnte ich machen? Sein Leiden hatte nichts mit mir zu tun. Es wäre in diesem kalten, stinkenden Gang gewesen, ob ich dort gewesen wäre oder nicht. Also trat ich über es hinweg. Ich kehrte ihm den Rücken und ließ es dort.
    Das Baby schrie mir nicht hinterher; in seinen Augen hatte ich dieselbe stumpfe Teilnahmslosigkeit erkannt, die ich in der Wildnis gesehen hatte, die Art, wie Sergeant Hawks Augen geblickt hatten in der Nacht, als er verschwunden war, das leere Starren des Hungers, der unbeschreibliche Schmerz des Verlangens.
    Dobrogeanu fing an, an die Tür zu schlagen. Das Geräusch sprang und hüpfte zwischen den engen Wänden hin und her; es schien sehr laut, wie alle Geräusche im Beinahedunkel. Wir warteten, aber niemand antwortete. Als Nächstes versuchte er den Griff, und unter protestierendem Quietschen öffnete sich die Tür.
    »Hallo?«, rief der alte Monstrumologe. » Je někdo doma?« Er umfasste den Revolver fester.
    Die Nováková-Wohnung war typisch für die trostlosesten Mietskasernenunterkünfte: Wände aus rissigem und abbröckelndem Gips; eine von Wasserflecken pockennarbige Decke; ein schiefer Boden, der bei jedem Schritt knarrte. Das Zimmer war jedoch sauber, und jemand hatte sich bemüht, dieschmuddeligen Wände mit billigen Drucken von hellen, sonnenerleuchteten Landschaften zu beleben. Es war herzzerreißend – fast schon grausam –, jene Felder mit Narzissen und Lilien, die der Verwahrlosung um sie herum trotzten.
    Eine ganze Wand wurde von einem Tisch und einer Bank eingenommen. Große Weidenkörbe, die mit geschnittenem Tabakblatt gefüllt waren, waren von einem Ende zum andern unter dem Tisch aufgereiht. Hier hatten Anezka und ihre Eltern sich mit krampfenden Fingern über den Tabak gebeugt und Zigarren gerollt, die, vermittels der großartigen Machenschaften des amerikanischen Handelsverkehrs, in den Mündern solcher Männer wie Oberinspektor Thomas Byrnes landen würden.
    Es gab nur noch ein anderes Zimmer, vom ersten durch ein schäbiges Laken getrennt, einen wandschrankgroßen Schlafplatz, der ein einziges Chaos aus zusammengeknüllten Kleidern und einem Klumpen aus Bettlaken war. Ich entdeckte eine Puppe, die in der anderen Ecke hockte; ihre strahlenden Augen glitzerten im verblassten Licht, das durch das Fenster hinter uns durchsickerte.
    »Wo sind sie hin?«, flüsterte ich.
    »Nach ihr suchen«, vermutete Dobrogeanu, aber es war ebenso sehr eine Frage wie eine

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