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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Warthrop sich über die Schulter gelegt hatte. Wir ließen alles zurück: Rucksäcke, Feldflaschen, den Besteckkasten des Doktors – sogar die Gewehre. Sie waren nutzlos gegen das Wesen, das uns verfolgte.
    Outiko wird nicht gejagt ; Outiko jagt , hatte der Ogimaa gesagt. Outiko ruft man nicht. Man wird von Outiko gerufen.
    Der Wind pfiff jetzt nicht mehr hoch oben in den Bäumen. Er kreischte. Er wimmerte. Die Erde bebte unter unseren Füßen. Der Wald hallte wider von einem rhythmischen Puls, einem ohrenbetäubenden Stampfen, dem primordialen Schlag des Herzens Gäas.
    Ich fiel immer weiter zurück. Ich konnte sie nicht mehr sehen, nur noch die Fußspuren, die im Zickzack durch den urzeitlichen Morast verliefen. Hinter mir kippten entwurzelte Bäume mit vom Schnee gedämpften Donnerschlägen um; das schrille Brechen ihrer Äste gab eine klägliche Begleitmusik zum brüllenden Wind und dem markerschütternden Dröhnen der Verfolgungsjagd des Wesens ab. Meine Schritte wurden zum stolpernden Taumeln eines Betrunkenen; ich sank auf die Knie. Dann wieder hoch für ein paar Yards, nur um wieder hinzufallen. Soll es mich eben holen , dachte ich. Man kann ihm nicht davonlaufen. Man kann sich nicht vor ihm verstecken. Kniend bedeckte ich den Kopf mit den Händen und wartete darauf, dass der Alte mich holte.
    »Steh auf! Steh auf, Will Henry, steh auf !«
    Der Monstrumologe zerrte mich auf die Füße und schubste mich vorwärts.
    »Wenn du noch einmal hinfällst, werde ich dich nach Rat Portage treten !«, schrie er. »Hast du verstanden?«
    Ich nickte – und brach trotzdem zusammen. Mit einem Wutgeheul riss der Doktor mich wieder hoch, schlang seinen freien Arm um meine Taille und drängte weiter; über seiner einenSchulter hing Chanler, unter seiner andern das widerspenstige Mündel. Dergestalt niedergedrückt auf der einen Seite von der Last, die er sich ausgesucht hatte, und auf der anderen von der, die er geerbt hatte, setzte Pellinore Warthrop seinen Weg durch die Einsamkeit fort.





VIERZEHN
    »Der, der dich herausgeholt hat«

    Zuerst dachte ich, ich träume. Das Zimmer war vertraut und fremd zugleich, wie in einem Traum – die Schüssel mit dem Sprung auf dem Waschtisch, die wacklige Frisierkommode, das schmale Fenster mit den schmuddeligen weißen Vorhängen, die klumpige Matratze, auf der ich lag. Entweder ich träume oder ich bin tot , dachte ich, obwohl ich mir den Himmel nie so deprimierend schäbig vorgestellt hatte. Trotzdem war es das erste Bett, in dem ich lag seit … wie lange? Es kam mir länger als ein Leben vor.
    »Na, endlich bist du wach!« Die alten Fußbodendielen knarrten; ein großer Schatten näherte sich. Dann fiel das spärliche Licht auf sein Gesicht. Verschwunden waren der Schmutz und Schmodder des Waldes, der Backenbart, der alte Mantel und die dreckige Hose. Seine Haare waren frisch geschnitten. Ich nahm eine Spur von Talkum wahr.
    »Dr. Warthrop«, krächzte ich. »Wo bin ich?«
    »In unserer alten Bude im Russell House. Es überrascht mich, dass du den rustikalen Charme nicht wiedererkennst!«
    »Wie lange habe ich …«
    »Dies ist der Morgen des dritten Tages«, sagte er.
    »Dr. Chanler …?«
    »Reist heute Nachmittag nach New York ab.«
    »Er lebt?«
    »Ich werde dir diese Frage verzeihen, Will Henry, da du nicht auf dem Damm bist. Aber ich muss schon sagen!«
    Er lächelte. Er legte mir die Hand beiläufig auf die Stirn und zog sie schnell wieder fort.
    »Du hast ein bisschen Fieber gehabt, aber jetzt ist es fort.«
    Meine Hand bewegte sich zu meiner Brust hin. Ich betastete den Mull des Verbands.
    »Du wirst ein paar Narben zurückbehalten, mit denen du die Damenwelt beeindrucken kannst, wenn du älter bist. Nichts Ernsteres.«
    Ich nickte, immer noch nicht imstande, das Ganze in mich aufzunehmen. Es kam mir immer noch wie ein Traum vor.
    »Wir sind herausgekommen«, sagte ich zögernd auf der Suche nach Bestätigung.
    Er nickte. »Ja, Will Henry. Wir sind herausgekommen.«
    Das Thema wurde für den Augenblick fallen gelassen; er legte meine Kleider aus und blieb ungeduldig neben dem Bett stehen, während ich mich bemühte, mich anzuziehen. Jedes Gelenk schmerzte, jeder Muskel zitterte vor Müdigkeit, und bei der kleinsten Bewegung brannte meine Brust scheußlich. Als ich mich aufsetzte, drehte sich das Zimmer, und ich raffte die Laken in meinen Fäusten zusammen, um mir Halt zu geben wider die Wogen der Übelkeit, die gegen die Klippen meiner geschwächten Konstitution

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