Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Gastgeber.
Als sie uns sah, erstarrte sie, ein jäher Halt, der beinah so heftig wie ihr Hereinstürmen war. Sie fasste sich jedoch schnell, wandte sich an von Helrung und machte ihm mit klingender Stimme ihre Entrüstung klar.
»Sie sind schon da! Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Sie sind gerade erst angekommen, mein kleiner Liebling «, entgegnete von Helrung vernünftig. »Dr. Warthrop, darf ich Ihnen meine Nichte vorstellen, Miss –«
»Bates«, unterbrach ihn das Mädchen und streckte dem Monstrumologen die Hand hin, die Innenfläche nach unten; dieser ergriff sie elegant, verbeugte sich tief und brachte die Lippen in die nähere Umgebung. »Lillian Trumbul Bates, Dr. Pellinore Warthrop. Ich weiß, wer Sie sind.«
»Offensichtlich«, antwortete der Doktor. Er nickte in meine Richtung. »Miss Bates, darf ich Ihnen –«
»William James Henry vorstellen«, beendete sie den Satz für ihn und richtete diese blau durchdrungenen Augen auf mich. »Kurz ›Will‹. Du bist Dr. Warthrops Assistent.«
»Hallo«, sagte ich zurückhaltend. Ihr Starren war allzu freimütig. Es entnervte mich von Anfang an.
»Onkel sagt, du bist in meinem Alter, aber wenn du das bist, bist du ziemlich klein. Wie alt bist du? Ich bin dreizehn. In zwei Wochen werde ich vierzehn, und Mutter sagt, dann darf ich zu Verabredungen gehen. Ich mag ältere Jungen, aber Mutter sagt, es wird mir nicht erlaubt sein, mich mit ihnen zu verabreden.«
Sie hielt inne und wartete auf meine Antwort, aber ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
»Gehst du zur Schule oder unterrichtet Dr. Warthrop dich?«
»Weder noch«, antwortete ich mit einer Art Piepsen, das in meinen Ohren peinlich vogelartig klang.
»Wirklich? Wieso nicht? Bist du begriffsstutzig?«
»Aber, aber, Lilly!«, protestierte ihr Onkel. »Will Henry ist unser Gast.« Er tätschelte ihr sanft die Schulter und sagte herzlich zu meinem Herrn: »Komm, Pellinore, setz dich zu mir; es sind frische Zigarren aus Havanna im Humidor. Wir wollen von den alten Zeiten sprechen und von den neuen und aufregenden, die uns bevorstehen!« Dann, indem er sich wieder seiner Nichte zuwandte, sagte er: »Lilly, mein kleiner Liebling , wieso nimmst du William nicht mit auf dein Zimmer und zeigst ihm dein Geburtstagsgeschenk? Wir lassen läuten, wenn das Abendessen serviert wird.«
Bevor weder der Doktor (der keine Zigarren rauchte) noch ich (der Lillian Trumbul Bates’ Schlafzimmer nicht zu sehen wünschte) etwas dagegen einwenden konnten, wurde ich aus dem Raum gezerrt, die Treppe hochgeschleppt und in ihr Zimmer geschleudert. Sie knallte die Tür zu, schob den Riegel vorund rauschte anschließend an mir vorbei, um sich mit einem Bauchklatscher aufs Himmelbett zu werfen. Sie rollte sich auf die Seite, stützte das runde Puppengesicht in den Handteller und musterte mich unter ihren zierlichen Brauen heraus unverhohlen mit einer Miene, die der des Doktors beim Herausreißen des Herzes von Pierre Larose nicht unähnlich war.
»Du studierst also, um ein Monstrumologe zu werden«, sagte sie.
»Ich nehme an, das tue ich.«
»Du nimmst an? Weißt du es denn nicht?«
»Ich habe mich noch nicht entschlossen. Ich – ich habe nicht darum gebeten, dem Doktor zu dienen.«
»Dein Vater hat ihn gefragt?«
»Mein Vater ist tot. Er hat dem Doktor gedient, und als er starb –«
»Was ist mit deiner Mutter? Ist sie auch tot? Bist du eine Waise? Oh, du bist Oliver Twist! Dann ist Dr. Warthrop wohl Fagin!«
»Ich sehe ihn gern als Mr. Brownlow«, sagte ich.
» Ich habe alles gelesen, was Mr. Dickens geschrieben hat«, erklärte Lilly mit Nachdruck. »Hast du ›Große Erwartungen‹ gelesen? Das ist mein Lieblingsbuch. Ich lese die ganze Zeit; das ist praktisch alles, was ich mache, außer Rad fahren. Fährst du gerne Rad, Will? Ich fahre praktisch jeden Sonntag, und weißt du, dass ich Lillian Russell sieben Mal gesehen habe, wie sie auf ihrem vergoldeten Rad mit ihrem Kavalier Diamond Jim Brady gefahren ist? Weißt du, wer Diamond Jim Brady ist? Er ist sehr berühmt, musst du wissen. Er isst alles. Einmal beim Frühstück habe ich ihn vier Eier, sechs Pfannkuchen, drei Schweinekoteletts, fünf Muffins und ein Beefsteak essen sehen, und heruntergespült hat er das Ganze mit einer Gallone Orangensaft, den er ›goldenen Nektar‹ genannt hat.
Onkel Abram kennt ihn. Onkel kennt jeden, der wer ist. Er kennt Buffalo Bill Cody. Vor zwei Sommern habe ich seine Wildwestschau in London gesehen, als er sie vor
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