Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
dafür sorgen, dass du wegen kaltblütigen Mordes belangt wirst, und dir beim Baumeln zusehen!«
»Du musst dich mit gewissen Fakten abfinden –«
»Fakten! Ah, wunderbar. Wir sind wieder bei den Fakten!« Warthrop lachte rau.
»Deren erster ist – ungeachtet dessen, was du von meinem Vorschlag hältst –, dass John sterben wird, wahrscheinlich deutlich früher, als ich meine Abhandlung präsentieren kann.«
»Und wieso sagst du das?«
»Weil er am Verhungern ist.«
Einen Moment lang erfolgte keine Antwort. Ich konnte mir allerdings die Miene des Doktors gut vorstellen.
»Er kann nicht essen?«
»Er will nicht essen. Weil das, was man ihm anbietet, nichts ist, was sättigt.«
Lilly zischte durch die Zähne und zerrte mich zurück, denn unten war der Doktor erschienen, der praktisch zur Haustür rannte.
» Will Henriiieeeeeeee !«, brüllte er.
»Pellinore! Pellinore, mein lieber Freund, wo willst du hin? Bitte, ich flehe dich an …« Der untersetzte Österreicher hastete ihm auf seinen stämmigen Beinen hinterher.
»Wo ich hinwill, geht dich verdammt noch mal nichts an, von Helrung – aber ich will es dir trotzdem sagen: zu John. Ich gehe John besuchen.« Er wich seinem alten Lehrmeister aus und blieb unvermittelt stehen, als er mich oben stehen sah.
»Mach fix, Will Henry!«, knurrte er. »Die Besuchszeit für die Irrenanstalt ist vorbei!«
»Du solltest nicht gehen, Pellinore«, sagte von Helrung.
»Und wieso nicht?«
Von Helrung seufzte. »Weil er hier ist.«
Der Doktor versteifte sich. Er trat auf von Helrung zu und sagte in einem Ton, den er mir gegenüber oft angewandt hatte – streng, entschieden und keine Diskussion duldend: »Bring mich zu ihm.«
Er wurde in einem Schlafzimmer am anderen Ende des ersten Stocks behütet, vier Türen von Lillys Zimmer entfernt. Von Helrung, dem die vorgerückte Stunde bewusst wurde und der seineSorge wegen unseres Hungers zum Ausdruck brachte, wies Lilly an, mich zum Speisezimmer zu geleiten, damit wir schon ohne sie beginnen mochten. Warthrop wollte nichts davon wissen. »Will Henry bleibt bei mir«, teilte er unserem Gastgeber mit. Auch Lilly protestierte und meinte, wenn ich bliebe, sollte sie auch bleiben; anders sei es gänzlich »unfair«. Davon wiederum wollte von Helrung nichts wissen; bei mir hatte er kein Mitspracherecht, aber bei ihr schon, und er befahl ihr, nach unten zu gehen. Sie schleuderte mir einen hasserfüllten Blick zu, als wäre ich an allem schuld, und trampelte die Treppe runter, wobei sie die Arme schlaff an den Seiten baumeln ließ und die Knie hoch anhob, sodass sie den Fuß auf jede Stufe knallen lassen konnte.
Von Helrung klopfte zweimal an die Tür, machte eine Pause und klopfte dann noch zweimal. Ich hörte, wie die schweren Schritte eines großen Mannes die Fußbodendielen überquerten, und dann das Geräusch mehrerer Riegel, die zurückgeschoben wurden. Die Tür öffnete sich knarrend. Auf der anderen Seite stand Augustin Skala, eine mächtige Pratze in die Tasche des alten Kolanis gesteckt. Er nickte seinem Arbeitgeber schweigend zu und trat zur Seite, sodass wir uns an seiner gewaltigen Körperfülle vorbeischieben konnten.
Der Raum war klein – ein Bett, eine Frisierkommode mit Waschtisch, ein einziges Fenster und ein Kamin, in dem ein paar feuchte Scheite schwelten. Auf dem Kaminsims stand eine Lampe und erzeugte spastische Schatten, die auf dem dunklen Teppichboden zuckten und nervös über die gedämpfte Tapete huschten; ich kam mir vor, als hätte ich eine Höhle betreten.
Chanler lag im Bett unter einer schweren gesteppten Tagesdecke; seine Augen waren unter zitternden Lidern verborgen, und seine Wimpern flatterten mit der Geschwindigkeit von Kolibriflügeln. Seine geschwollenen, blutroten Lippen waren leicht geöffnet, und ich konnte seine tiefen, pfeifenden Atemzüge von meinem Platz auf der anderen Seite des Zimmers aus hören.
»Weshalb hast du ihn hierher verlegt?«, fragte der Doktor leise.
»Wir hielten es für das Beste«, antwortete von Helrung.
»›Wir‹?«
»Die Familie und ich.«
»Und was hat sein Arzt gemeint?«
»Ich bin sein Arzt.«
»Wann bist du Doktor der Medizin geworden, von Helrung?«
»In dem Sinne, dass er mir anvertraut wurde, Pellinore.«
»Und Muriel war damit einverstanden?«
Der alte Österreicher nickte und fügte düster hinzu: »Es gibt nichts mehr, was sie noch für ihn tun kann.«
»Ich kann euch ganz gut hören!«
Der Gegenstand ihrer Unterhaltung schien keinen
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