Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
bin.« Er stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Und damit sind sie nicht allein!«
»Wer ist sie, Dr. Warthrop? Wer ist Veronica Soranzo?«
»Jemand, über den ich nicht zu reden wünsche.«
»Waren Sie beide …« Ich kannte das Wort nicht, das ich benutzen sollte.
Er anscheinend schon, denn er antwortete: »Ja … und nein. Und welche Rolle spielt das?«
»Keine.«
»Warum bringst du es dann aufs Tapet?«, fragte er gereizt, ließ sich auf die Seite plumpsen und zog penibel die Ränder des Betttuchs zurecht.
»Ich hätte nur nie gedacht …«
»Ja? Was hättest du nie gedacht? Es gibt so viele Möglichkeiten; lass mich nicht raten! Was? Dass ich ein Leben hatte, bevor du darin aufgetaucht bist? Ich bin nicht plötzlich ins Dasein gekommen, als du auf der Bildfläche erschienen bist, Will Henry. Bevor du warst, war ich, und das schon eine ganze Weile lang. Veronica Soranzo gehört zu dem, was war, und ich versuche mich mit dem zu befassen, was ist und was sein wird. Und jetzt gönne mir bitte ein wenig Ruhe! Ich muss nachdenken.«
* * *
Als ich einige Stunden später aufwachte, dachte ich für einen desorientierten Moment lang, ich wäre daheim in meiner kleinen Dachkammer in der Harrington Lane und von seinen verzweifelten Rufen, die mich zum Erscheinen an seiner Bettstatt aufforderten, aus tiefem Schlaf gerissen worden. Der Doktor hatte die Jalousien heruntergelassen, das kleine Abteil war pechschwarz, und ich fand ihn durch die Laute seiner erstickten Schluchzer. Ich streckte die Hand aus. Sein Körper zuckte bei der Berührung zusammen.
»Dr. Warthrop?«
»Es ist nichts. Nichts. Ein Traum, das ist alles. Nichts. Schlaf weiter.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich. Mir sah es nicht nach nichts aus. Ich hatte ihn noch nie so verängstigt gehört.
»Was ist, wenn er sie umgebracht hat, Will Henry?«, weinte er. »Als er unsere Scharade durchschaut hat, hat er sie bestimmt zur Rede gestellt, meinst du nicht auch? Ja, ja. Er muss wütend gewesen sein; er wird seine Wut an ihr ausgelassen haben. Ach, was habe ich getan, Will Henry? Was habe ich bloß getan?«
»Sollen wir zurückkehren?«
»Zurückkehren? Zurückkehren wozu? Um sie zu beerdigen? Hörst du mir überhaupt jemals zu? Hörst du dir jemals zu? Ich habe sie an meiner Stelle geopfert, Will Henry. Ich habe sie umgebracht!«
»Das wissen Sie doch gar nicht, Sir. Das können Sie nicht wissen.« Sein Grauen war ansteckend; ich schlang die Bettdecke um meine zitternden Schultern. Plötzlich war das Abteil sehr klein und sehr kalt. Obwohl meine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich sein Gesicht nicht sehen; er war ein immaterieller Schemen vor dem dunkleren Grau.
»Seht mir nicht in die Augen«, murmelte er fiebrig. »Denn ich bin der Basilisk. Fürchtet meine Berührung, denn ich bin der Midas der Vernichtung.« Er suchte im Dunkel nach meiner Hand – zum Trost, dachte ich, aber ich irrte mich. Es war zum Beweis. »James und Mary, Erasmus und Malachi, John undMuriel, Damien und Thomas und Jacob und Veronica und diejenigen, deren Namen ich vergessen habe, und diejenigen, deren Namen ich nie gekannt habe …« Er drückte auf die Stelle, wo mein Finger hätte sein sollen. »Und du, Will Henry. Du hast dich in den Dienst von ha-Mashchit gestellt, dem Zerstörer, dem Engel des Todes, den Gott am ersten Tag erschuf, demselben Tag, an dem er sagte: ›Es werde Licht.‹
Und wenn ich meinen Fuß auf die Gestade der Insel des Blutes setze, um die Fahne des Eroberers einzupflanzen, wenn ich den Gipfel des Abgrunds erreiche, wenn ich das Wesen finde, das wir alle fürchten und das wir alle suchen, wenn ich mich umdrehe, um dem Gesichtslosen ins Antlitz zu schauen, wessen Gesicht werde ich da sehen?«
In der Dunkelheit hob er meine Hand hoch und drückte sie an seine Wange.
Wenn ich es mir jetzt vorstelle, ist sein Gesicht sanftmütig, erstarrt in einer Haltung göttlicher Abgeklärtheit, wie die griechische Statue eines alten Helden – Herakles vielleicht – oder die Büste des Caesar Augustus in den Musei Capitolini. Das Gesicht des lebendigen Warthrop ist in meiner Erinnerung versteinert, und seine Augen sind wie die einer Statue leer, ohne Detail, ohne Sicht. Es ist kein Versagen meines Gedächtnisses – wie gut ich mich an diese Augen erinnere! Es ist die Gnade, die ich mir selbst gewähre. Und es ist mein Geschenk an ihn – die Absolution der Blindheit.
* * *
Er verstummte. Ich glaube nicht, dass er
Weitere Kostenlose Bücher