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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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ungefähr in Warthrops Alter. Sein dunkles Haar wurde an den Schläfen grau und war sehr kurz geschnitten. Er trug den allgegenwärtigen weißen Baumwollanzug. Als er den Kopf in unsere Richtung drehte, war ich sofort, wie die meisten, die ihn kannten, von seinen Augen gefangen. Zuerst dachte ich, sie wären grau, aber bei näherer Prüfung stellte ich fest, dass sie vom blassesten Blau waren, wie die Farbe von Mondsteinen, die Edelsteine, welche die Inder »Traumsteine« nannten, weil sie glaubten, dass sie schöne nächtliche Traumbilder brächten. Sein Blick war direkt und beunruhigend, so wie alles andere an Jean Nicolas Arthur Rimbaud.
    »Ja?«, fragte er. Es lag nichts Angenehmes in diesem »Ja«.
    Der Doktor stellte sich schnell und mit einem Anflug von Atemlosigkeit vor, der einfache Landmann, der sich plötzlich in der Gegenwart königlicher Personen wiederfindet. Er übergab Rimbaud Fadils Brief. Wir setzten uns nicht. Wir warteten darauf, dass Rimbaud den Brief las. Es war kein langer Brief, aber der Mann schien eine ganze Weile zu brauchen, um ihn zu lesen, während ich in der sengenden arabischen Hitze stand und der funkelnde Ozean verlockend wenige hundert Yards weit weg war. Rimbaud nahm einen Kristallkelch zur Hand, der mit einer Flüssigkeit von der Farbe grüner Algen gefüllt war, und nippte vorsichtig daran.
    »Fadil«, sagte er leise. »Ich habe Fadil acht Jahre oder länger nicht gesehen. Ich bin überrascht, dass er nicht tot ist.« Er blickte von dem Blatt auf, weil er möglicherweise erwartete, dass der Doktor irgendetwas Interessantes von sich gab, eine geistreiche Erwiderung vielleicht oder ein Lachen über den Scherz (falls es ein Scherz war), ihm etwas über Fadil erzählte, was er noch nicht wusste. Der Doktor sagte nichts. Mit einer lässigen Bewegung seiner freien Hand deutete Rimbaud auf einen Stuhl, und dankbar gesellten wir uns zu ihm an den Tisch. Er bestellte noch einen Absinth bei dem kleinen Araberjungen, der folgsam ein Stück weiter weg gewartet hatte, und fragte den Doktor, ob er etwas wolle.
    »Etwas Tee wäre wunderbar.«
    »Und für den Jungen?«, fragte Rimbaud.
    »Nur etwas Wasser, bitte«, krächzte ich. Mein Rachen brannte mit jedem trockenen Schlucken.
    »Du willst kein Wasser«, warnte Rimbaud mich. »Sie sagen, sie kochen es ab, aber …« Er zuckte die Schulter und bestellte ein Ginger Ale für mich.
    »Monsieur Rimbaud«, begann Warthrop, indem er sich auf seinem Stuhl vorsetzte und die Unterarme auf die Knie stützte. »Ich muss Ihnen sagen, welch ein Vergnügen es ist, Sie kennenzulernen, Sir. Nachdem ich in jungen Jahren selbst in dem Handwerk dilettiert habe, weiß ich …«
    »Dilettiert in welchem Handwerk? Dem Kaffeegeschäft?«
    »Nein, ich meine …«
    »Denn das ist mein Handwerk, Dr. Warthrop, meine Raison d’Être. Ich bin Geschäftsmann.«
    »Genau so!«, rief der Doktor, als hätte der Franzose eine weitere Ähnlichkeit aufgezeigt. »So hat es sich bei mir auch totgelaufen! Ich habe die Dichtkunst auch aufgegeben, wenn auch für eine ganz andere Art von Handwerk als dem Ihren.«
    »Ach ja? Und was wäre diese ganz andere Art von Handwerk, Dr. Warthrop?«
    »Ich bin Wissenschaftler.«
    Rimbaud führte gerade sein Glas an die Lippen. Bei dem Wort »Wissenschaftler« erstarrte er in der Bewegung und setzte es dann langsam wieder ab, sodass der Absinth unangetastet blieb.
    »Fadil hat in seinem Brief nicht erwähnt, dass Sie ein Doktor von der wissenschaftlichen Sorte sind. Ich hatte gehofft, Sie könnten einen Blick auf mein Bein werfen; es quält mich seit geraumer Zeit, und die Doktoren in Camp Aden … Na ja, sie sind alle sehr britisch , falls Sie mir die Bemerkung nicht verübeln.«
    Warthrop, der gerade mehrere Monate unter der exklusiven Obhut sehr britischer Doktoren verbracht hatte, nickte nachdrücklich und sagte: »Ich verstehe vollkommen, Monsieur Rimbaud.«
    Der Junge kam mit unseren Getränken wieder. Rimbaud schüttete den Rest seines ersten Absinths hinunter – falls es sein erster war; ich hatte den Verdacht, er war es nicht –, bevor er den frischen von dem Jungen annahm, als beeilte er sich, mit dem Doktor gleichzuziehen, der noch nicht einmal begonnen hatte. Zeige mir einen Menschen, der seine Gelüste nicht zügeln kann, hatte der Monstrumologe gesagt, und ich zeige dir einen Menschen, der mit einem Todesurteil lebt.
    Rimbaud nippte an seinem neuen Getränk, kam zu dem Schluss, dass es ihm mehr zusagte als das alte, und

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