Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
nahm noch einen Schluck. Sein Mondsteinblick fiel auf meine Hand.
    »Was ist mit deinem Finger passiert?«
    Ich warf einen Blick auf den Doktor, der sagte: »Ein Unfall.«
    »Siehst du das hier? Das ist mein ›Unfall‹.« Rimbaud streckte mir das Handgelenk hin und zeigte mir einen feuerroten, runzeligen Bereich beschädigten Fleischs. »Angeschossen von einem lieben Freund. Auch ein ›Unfall‹. Mein lieber Freund ist in Europa. Ich bin in Aden. Und meine Verletzung ist genau hier.«
    »Ich glaube, meine Lieblingszeile stammt aus Illuminations «, sagte mein Herr, ohne lockerzulassen. Irgendetwas schien ihn zu stören. »›Et j’ai senti un peu son immense corps.‹ Die Gegenüberstellung von ›peu‹ und ›immense‹ … einfach wunderbar!«
    »Ich rede nicht über meine Dichtung, Dr. Warthrop.«
    »Tatsächlich?« Der Doktor war fassungslos. »Aber …«
    »Sie ist … was? Was sind meine Gedichte? Rinçures  – Reste, Bodensatz. Der Dichter ist tot. Er starb vor vielen Jahren – ertrank, am Bab el-Mandeb, dem Tor der Tränen –, und ich brachte seinen Leichnam hinauf in die Berge dort hinter uns, zum Turm des Schweigens in Crater, wo ich ihn den Aasfressern überließ, auf dass seine Verderbtheit nicht das wenige vergifte, was von meiner Seele noch übrig war.«
    Er lächelte verkniffen, recht zufrieden mit sich selbst. Poeten sterben nie, dachte ich. Sie versagen nur am Ende.
    »Nun, was ist das für eine Angelegenheit, die Sie nach Aden führt?«, fragte Rimbaud plötzlich brüsk. »Ich bin ein viel beschäftigter Mann, wie Sie sehen können.«
    Der Doktor, dessen Hochstimmung von Rimbauds abweisender Haltung gedämpft wurde – ausnahmsweise einmal hatte der Spieß sich umgedreht –, erklärte, welchen Zweck wir damit verfolgten, Rimbaud bei seinen wichtigen vormittäglichen Absinthpflichten zu stören.
    »Es tut mir leid«, unterbrach Rimbaud ihn. »Aber wohin, sagen Sie, wollen Sie fahren?«
    »Sokotra.«
    »Sokotra! Oh, Sie können jetzt nicht nach Sokotra fahren.«
    »Warum kann ich nicht?«
    »Na ja, Sie könnten schon, aber es wäre der letzte Ort, an den Sie wollten.«
    »Und wieso ist das so, wenn ich fragen darf, Monsieur Rimbaud?« Unruhig wartete der Doktor auf die Antwort. Hatten Informationen über das Magnificum Aden erreicht?
    »Weil die Monsunwinde gekommen sind. Kein vernünftiger Mensch versucht es jetzt. Sie müssen jetzt zwangsläufig bis Oktober warten.«
    »Oktober!« Der Monstrumologe schüttelte heftig den Kopf, als versuchte er, sich die Augen frei zu machen. »Das ist nicht akzeptabel, Monsieur Rimbaud.«
    Rimbaud zuckte die Achsel. »Ich kontrolliere das Wetter nicht, Dr. Warthrop. Bringen Sie Ihre Beschwerde bei Gott vor.«
    Natürlich war der Monstrumologe, so wie das Monster Rurick, keiner, der so einfach aufgab. Er bedrängte Rimbaud. Er bat Rimbaud eindringlich. Es fehlte nicht viel, und er hätte Rimbaud bedroht. Rimbaud nahm alles mit irritierter Miene auf. Vielleicht dachte er: Dieser Warthrop, er ist ja so sehr amerikanisch! Am Ende und nach zwei weiteren Absinth wurde der Dichter weich und sagte: »Ach, na schön! Ich kann Sie genauso wenig davon abhalten, Selbstmord zu begehen, wie ich Sie davon abhalten könnte, Gedichte zu schreiben. Hier.« Er kritzelte eine Adresse auf die Rückseite seiner Geschäftskarte. »Geben Sie die hier einem gharry-wallah ; er wird wissen, wo es ist. Fragen Sie nach Monsieur Bardey. Erzählen Sie ihm, was Sie mir erzählt haben, und wenn er Sie nicht lachend zur Tür hinauswirft, dann haben Sie vielleicht Glück.«
    Warthrop dankte ihm, stand auf und bedeutete mir, mich ebenfalls zu erheben, und dann stand Rimbaud auf und sagte: »Aber wo gehen Sie denn hin?«
    »Monsieur Bardey einen Besuch abstatten«, erwiderte der Doktor verdutzt.
    »Aber es ist noch nicht einmal halb elf! Er wird noch nicht da sein. Setzen Sie sich. Sie haben Ihren Tee ja noch nicht ausgetrunken.«
    »Die Adresse ist in Crater, richtig? Bis ich dort ankomme …«
    »Ach, meinetwegen, aber rechnen Sie nicht damit, so schnell wieder zurück zu sein.« Er sah mich an. »Und den Jungen sollten Sie nicht mitnehmen.«
    Warthrop versteifte sich und erzählte dann eine Lüge – vielleicht eine ungewollte, aber es war dennoch eine Lüge. »Ich nehme den Jungen immer mit.«
    »Es ist kein guter Stadtteil. Es gibt Männer in Crater, die ihn allein wegen seiner guten Schuhe umbringen würden – oder dieser sehr hübschen Jacke, die sehr modisch, aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher