Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
Vom Netzwerk:
gebe es nicht her.«
    Er packte meine Hand und drehte sie mir auf den Rücken. Er war kein Mensch mehr. Er hatte sich tatsächlich in ein reißendes Tier verwandelt. In ein Schwein. In einen Wolf. Ein seltsames Tier, das eher Abscheu als Angst erregt. Mit der rechten Hand riß er mir das Kollier mit einem Ruck vom Hals. Er wandte sich an seine Mutter und sagte, »Weh dir und weh ihr, falls sie ab morgen noch einen Fuß außer Haus setzt.« Er rannte zur Haustür und verriegelte sie. Er kehrte zurück und sagte zu mir, »Du hast bis morgen früh Zeit zum Nachdenken. Vielleicht kommst du zur Vernunft. Ich will dieses Haus und werde es bekommen, egal wie. Besser, wenn du es im Guten herausrückst.«
    Er ging in das Zimmer seiner Mutter, und sie schliefen nachts beide dort. Bis Mitternacht blieb ich wach neben der Petroleumlampe sitzen. Ich konnte nicht einschlafen. Gesicht, Mund, Hand, mein ganzer Körper schmerzte und brannte, sogar mein Nacken vom Abreißen des Kolliers. Aber der eigentliche Schmerz saß in meinem Herzen. Wo war der Rahim geblieben, dem ich in der Schreinerei begegnet war? Wann war er fortgegangen? Weshalb war er gegangen? War es meine Schuld oder seine? Weshalb hatte ich nicht zugelassen, daß Koukab dablieb? Was hätte Koukab an meiner Stelle getan? Paßte sie nicht besser zu ihm? Verstand sie diesen Mann nicht besser als ich?
    Ich war müde. Es reichte. Keine Spur von Tränen. Ich saß da wie eine Statue. Man konnte nicht einmal behaupten, ich hätte auch nur einen Gedanken im Kopf. Ich starrte auf die Blumenmuster des Teppichs. Bei wem sollte ich mich beschweren? Über wen sollte ich mich beschweren? Selbst hatte ich mich blindlings ins Verderben gestürzt. Nun war es zu spät. Es war nicht wieder gutzumachen. Ich wußte nicht, was tun. Ich wußte nur, daß ich es nicht länger ertragen konnte. Nein, es war genug. Die Liebe hatte mich zugrunde gerichtet. Sie hatte mich verbrannt. Mein Herz war zerrissen. Meine Seele war gestorben. Erst jetzt begriff ich, was das Leben bedeutete. Ich begriff, daß man mit dem Leben nicht spaßen konnte. Es war kein Spiel. Es bestand nicht nur aus Leidenschaften. Der Abgrund, in den ich gestürzt war, die Hölle, in die ich kopfüber gefallen war, hatte mich reifen lassen. Ich wußte, das Schicksal war nicht die liebevolle Hand einer Mutter, die mir über den Kopf strich. Das Antlitz der Welt entsprach nicht dem liebevollen und lächelnden Gesicht meines Vaters, das mir vor Augen stand. Das Schicksal war nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, ein Spielball, den wir nach Belieben annehmen und, wenn wir genug haben, mit einem Stups fortstoßen können. Die Realität war, was mir gegenüberstand und viel zu bitter, als daß ich sie hätte benennen können. Nach und nach hatte ich die Bedeutung der Worte meines Vaters begriffen und konnte sie jetzt am eigenen Leib erleben.
    Ich weiß nicht mehr, wann ich einschlief und wieder erwachte. Die Petroleumlampe brannte noch. Die Nacht war noch pechschwarz. Ich löschte das Licht, legte mich an derselben Stelle auf den Teppich und versank in einen qualvollen, unruhigen Schlaf. O Tag, beeil dich. O Nacht, wie geduldig und ausdauernd du bist. Wann wirst du endlich enden? Wie lange wollte mich diese Finsternis noch gefangen halten? Wann würde sie von mir ablassen? O Kummer und Schmerzen, laßt mich frei oder tötet mich. O Herr, erlöse mich. Nicht stückweise, sondern auf einmal. Erlöse mich von mir selbst.
    Der Himmel graute, und es war noch immer dunkel. Ich erwachte. Was für eine Nacht hatte ich durchlitten! Ich setzte mich auf. Ich schlang die Arme um meine Knie und lehnte mich an die Wand. Ich starrte durch das Fenster auf den Hof. Auf den Winkel an der Mauer, auf Almass’ Platz. Ein Seufzer kam aus meiner Brust.Ich sah Almass, wie er die Stufen hinaufkam. Wie er sich neben mich setzte. Wie er Weizen- und Hanfkörner verlangte. Wie er, verstört über den Streit zwischen seinem Vater und mir, weinte. Wie er erlöst worden war.
    Die Tür öffnete sich, und meine Schwiegermutter betrat mit dem Samowar das Zimmer. Wann war es hell geworden? Wann war die Sonne aufgegangen?
    Ich saß weiterhin still und reglos. Sie sah mich und wunderte sich. Einen Augenblick lang blieb sie mit dem Samowar in den Händen stehen, »Ach! Warst du die ganze Zeit hier?«
    Ich antwortete nicht. Sie trat vor, breitete aus, was zum Samowar gehörte, und stellte ihn an seinen üblichen Platz. Sie setzte sich neben mich und sagte hinterhältig,

Weitere Kostenlose Bücher