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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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›Ach, was habe ich nur verbrochen.‹
    Am Freitagmorgen kam mein Vater. Ich war bereit. Ich erkannte seine Kutsche aus der Ferne. Firuz Chan saß mit demselben buschigen Schnauzbart und krausem Haar auf dem Kutschbock wie immer. Er war ein wenig ergraut, als hätte man ihm Kreide aufs Haupt geschüttet. Voller Neugierde und Bedauern musterte er mich verstohlen. Die Kutsche war wie Kutscher und Herr in die Jahre gekommen. Offenbar erriet mein Vater meine Gedanken. Entschuldigend meinte er, »Die Kutsche ist ziemlich heruntergekommen. Wir müssen uns allmählich nach einem Automobil umsehen.«
    Firuz Chan sagte, »Salaam, kleine Dame!«
    Mit dieser Begrüßung fühlte ich mich in die wunderbare vergangene Welt zurückversetzt. Wieder saß mir ein Kloß im Hals, und ichsagte beim Einsteigen, »Aleike Salaam, Firuz Chan. Du bist alt geworden!«
    »Chanum, die Pferde, die Kutsche und ich, wir alle sind alt geworden. Man muß uns zum Abdecker schicken.«
    Er spielte auf meinen Vater und dessen Entschluß an, ein Automobil zu kaufen. Mein Vater sagte, »Die Pferde und die Kutsche vielleicht, aber du mußt dir etwas Mühe geben, zu faulenzen aufhören und Autofahren lernen.« Er lachte.
    Der Kutscher sagte, während er die Pferde mit der Peitsche antrieb, lachend über die Schulter, »Für mich ist es zu spät. Ich habe nur gelernt, die Pferde anzupeitschen.«
    »Dann werde ich dich solange anpeitschen, bis du es lernst.« Wir lachten alle drei. Wir waren fröhlich, jeder auf seine Art und Weise, jeder in seine eigenen Gedanken und Sehnsüchte versunken.
    Ach, wieder dieselbe Straße, dieselbe Gasse und derselbe kleine Basar und… dieselbe verdammte Schreinerei, deren Tür glücklicherweise noch vernagelt war. Dann… die Gartenmauer unseres Hauses und… wir waren da.
    Mein Herz klopfte wie wild. Ich wußte nicht, wie mir zumute war. Mein Vater hatte gesagt, meine Schwestern würden mit ihren Ehemännern und Kindern zum Mittagessen kommen, um mich zu sehen, doch sie waren noch nicht eingetroffen.
    Als ich eintrat, schien es, als sei eine Prinzessin eingetreten. Meine liebe Amme, Dadde Chanum, Hadj Ali und sogar das neue Dienstmädchen, das meine Mutter eingestellt hatte, kamen mich begrüßen. Wo war denn meine Mutter? Wo war Manuchehr?
    Die Amme, Dadde Chanum und die junge Dienerin reichten mich einander weiter und küßten mich, und ich sah nur auf die Fenster des Hauses. Zerstreut fragte ich, »Hadj Ali, wie geht es dir?«
    »Ach, Chanum, ich bin alt geworden. Und hören kann ich überhaupt nicht mehr. Ich bin richtig schwerhörig geworden.«
    Als sei er vorher nicht schwerhörig gewesen.
    Mein Vater, der fröhlich war oder es vortäuschte, sagte, »Schon gut, Hadj Ali, dein Ghormeh Ssabzi ist angebrannt. Man kann es bis hierher riechen.«
    Hadj Ali lachte und humpelte davon. Mein Vater befreite mich aus der Umarmung der anderen und sagte, »Es reicht. Wo ist Chanum Bozorg?«
    Meine liebe Amme sagte, »Im Fünftüren-Zimmer. Seit heute morgen sitzt sie in einem Sessel. Ihr fehlt die Kraft aufzustehen.«
    Wir gingen auf das Haus zu. Ich hob den Kopf, und das Herz sank mir in die Knie. Am Kopfende der Treppe hatte sich ein kleiner Junge hinter dem Pfeiler versteckt und lugte neugierig hervor. Er glich Almass überhaupt nicht, doch sein Verhalten entsprach vollkommen Almass’ Verhalten. Ich rief, »Manuchehr!«
    Er wich zurück und versteckte sich hinter dem Pfeiler.
    Ich nahm zwei Stufen auf einmal und umarmte ihn. Er war verschreckt. Mein Vater sagte, »Mein Söhnchen, sag deiner Schwester guten Tag. Das ist Mahbube.«
    Manuchehr sagte, »Salaam.«
    Ich küßte und herzte ihn. Ich hatte mich vor ihn gehockt, um auf derselben Höhe zu sein. Ich suchte in ihm nach einer Spur meines Sohns. In meinen Armen reckte er den Kopf und sagte zu meinem Vater, »Nozhat ist meine Schwester. Chodjasteh ist meine Schwester.«
    Ich drückte ihn an mich und küßte ihn, »Ich bin es ebenfalls, mein Liebstes, ich bin es ebenfalls.«
    Ich öffnete die Tür des Fünftüren-Zimmers. Meine Mutter saß auf dem Samtsessel. Ich blieb an der Tür stehen und sagte, »Salaam, Chanum Djan.«
    Sie streckte ihre Hände aus und stöhnte, »Bist du gekommen, Mahbub? Bist du endlich gekommen? Ich dachte, ich würde sterben und dich nicht wiedersehen. Ich sagte mir, du würdest nicht wiederkommen. Solange nicht wiederkommen, bis du an meinem Grab stehen würdest.«
    Ihre Augen waren gerötet. Der Tchador glitt mir vom Kopf, und ich rannte los. Ich

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