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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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nicht aufregen, wenn ich es sage? Ich bitte Sie, um Gottes willen…«
    »Ich fragte, wer ist dieser Mensch?«
    »Ein Schreinerlehrling. Der an der Straße. Er heißt Rahim.«
    Mein Vater saß statuengleich mit gekreuzten Armen da und rührte sich nicht. Bis zu jenem Abend hatte ich nicht gesehen, wiesich die roten Lippen eines Menschen jäh weiß entfärben. Vaters Lippen erblaßten. Über den Kopf meiner Mutter hinweg stierte er die Wand gegenüber an.
    Meine Mutter hob entsetzt den Kopf und starrte ihn an. Sein Schweigen war beängstigender als jeder Ausbruch. Ruhig fragte sie, »Agha?!« Und da mein Vater weiterhin schwieg, sagte sie mit hoffnungsvollem Ton, »Agha, er will zum Militär. Er wird schließlich nicht ewig Schreiner bleiben.«
    Mein Vater öffnete, während er weiterhin die Wand anstarrte, den Mund. Seine Stimme klang ruhig, tief, erstickt und beherrscht. Nur mit Mühe brachte er es hervor. Als preßte ihm jemand die Kehle zu. »Wo ist sie?… Wo ist dieses Mädchen?«
    Meine Mutter umklammerte mit beiden Händen die Knie meines Vaters, »Agha, bei Ihren Vorfahren, was haben Sie mit ihr vor?«
    »Auf der Straße treibt sie sich herum? Streunt durch die Stadt und treibt, was ihr gefällt? Wo ist sie? Ich fragte, wo sie ist?«
    Meine Schwester sagte flehend, »Agha Djan, um des Himmels willen, verzeihen Sie ihr. Sie hat da was angestellt. Überhaupt war es mein Fehler, Sie darauf anzusprechen. Kindisch hat sie etwas ausgefressen…«
    Mein Vater schoß wie ein Knallkörper vom Stuhl, »Kindisch? In ihrem Alter hatte deine Mutter schon ein zweijähriges Kind. Ich habe ihr zuviel Auslauf gelassen. Ich werde dieses Mädchen auspeitschen, bis es grün und blau ist und ihr das Verliebtsein vergeht.«
    Meine Schwester stöhnte und klagte, »Agha Djan, was heißt hier Verliebtsein? Was reden Sie denn da?…«
    Meine Mutter sagte, »Agha, verlieren Sie nicht das Gesicht. Es wird nach außen dringen. Wir schaden nur uns selbst.«
    Mein Vater brüllte. Offensichtlich hatte er die Fassung verloren, »Das Gesicht verlieren? Noch weiter als jetzt? Soll das heißen, die Amme und die Diener haben es nicht bemerkt? Sind die etwa blöde? Und wenn sie es nicht gemerkt haben, es ist noch nicht zu spät dafür. Freu dich nicht zu früh. Die Schande wird über uns kommen. Meine Schwester hatte recht, als sie sagte, ich solle meinen Töchtern nicht soviel freie Hand lassen. Ich sagte, sie soll gefälligst herkommen. Wo ist dieses Luder?«
    Bei der Erwähnung der Tante preßte meine Mutter haßerfüllt dieLippen aufeinander. Voller Zorn durchmaß mein Vater mit großen Schritten das Zimmer. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt, und meine Mutter und meine Schwester, die einander dauernd im Weg standen, liefen ihm aufgeschreckt hinterher und flehten ihn an. Mein Vater wartete wortlos vor Wut auf mein Erscheinen. Meine Mutter sagte, »Agha, Sie sind selbst schuld. Ständig Hafis’ Gedichte, ständig Leili und Madjnun , ständig Qamars Lieder. Ich hatte schon bemerkt, daß sie in letzter Zeit entweder die Schallplatten von Qamar hörte oder Gedichte las. Und das ist das Ergebnis… Hat sich etwa nur dieses eine Mädchen verliebt?«
    Mein Vater stellte sich vor ihr auf und sagte, seinen Zeigefinger auf sie richtend, »Nein, Chanum, wegen Hafis’ Gedichten, Leili und Madjnun und Qamars Liedern verliebt man sich nicht. Erst verliebt man sich, dann kommt man auf solche Gedanken. Und dann gelüstet es einen nach Leili und Madjnun und Amore mio. Dieses Mädchen ist auch nicht das erste, das ein Auge auf jemanden geworfen hat. Aber es ist das erste, das sich einen Habenichts ausgesucht hat… Offizier will er werden? Ha, ha! Daß ich nicht lache! Ich bin doch kein Idiot, Chanum. Sag ihr, daß sie herkommt… Du sagst es nicht? Dann geh ich selber.«
    Mein Vater stürmte zur Tür. Ich sprang zurück. Ich hörte, wie meine Mutter fragte, »Was haben Sie vor, Agha? Sie sind wütend. Tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten!«
    »Geh zur Seite, Chanum. Geh mir aus dem Weg.«
    »Bei Manuchehrs Leben, Agha, regen Sie sich doch nicht auf. Haben Sie um Manuchehrs willen Erbarmen.«
    »Bei Manuchehrs Leben? Hat dieses Mädchen zugelassen, daß ich etwas von Manuchehr habe? Hat es etwa zugelassen, daß ich nach so vielen Jahren ein paar ruhige Augenblicke verbringe? Sie hat mir alles verdorben. Einen… Betrüger, einen Nichtsnutz. Einen Stutzer. Mein Ansehen ist zum Teufel…«
    Meine Schwester bettelte, »Agha Djan, Ihr

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