Der Morgen der Trunkenheit
Tante mütterlicherseits, die Cousinen und Cousins mütterlicherseits, die Cousinen und Cousins väterlicherseits…, die Verheirateten und alle jüngeren Familienmitglieder. Die Ledigen. Dann die Freundinnen und Freunde meiner Eltern und anschließend die Gegenbesuche bei Nozhat und allen Jüngeren, die zu Besuch gekommen waren. Zu Verwandten, Freunden und Bekannten. Und schließlich Ssizdah Bedar im Garten meines Onkels in Shemiran oder im Garten meines Vaters in Gholhak. Mit einer Schar Kinder aus der Familie, der Amme, Dadde Chanum und der Kinderfrau.Dichtgedrängt saßen sie beieinander und breiteten das Speisetuch aus: Ash reshte , Ssekandjebin und Salat, gekochte Pferdebohnen und Ssabzi-Pilav mit Lammfleisch. Und danach Tee, Wasserpfeife, Knabberzeug und Gebäck. Um zu guter Letzt müde und erschöpft aus dem Garten zurückzukehren und tief und fest bis zum nächsten Mittag zu schlafen.
In Gedanken stellte ich mir meine Familie vor, wie sie beieinander saß. Vorgestern nacht, am Tchaharshanbe-Ssuri , hatten Rahim und ich zusammengesessen, Melonenkerne geknabbert und auf die Knallfrösche gehorcht, die die Kinder losließen, auf das Geklapper der Topfschläger, auf den Geruch von Rauch und Feuer. Was sollte ich jetzt tun? Wen hatte ich noch, um ihn besuchen zu gehen? Wer würde mich besuchen kommen?
Ich hatte mein Geld gespart und war mit der Amme heimlich in den Basar gegangen, um für Rahim eine Uhr mit Goldkette als Neujahrsgeschenk zu kaufen. Seine Westentasche sollte eine goldene Kette schmücken. Beim Jahreswechsel überreichte ich ihm das Neujahrsgeschenk. Er lachte hocherfreut und schenkte mir einen reich verzierten Holzrahmen, in dem sich eine Kalligraphie befand, die er geschrieben hatte.
Ich nahm ihm den Rahmen entzückt aus der Hand. Ich freute mich, daß er sich mit Dichtung und Kalligraphie beschäftigte. Ich sagte, er solle sie ebenfalls aufhängen. An die Wand des Zimmers, in dem wir schliefen, und er hängte sie auf. Ich wünschte, ich wüßte, was mein Vater in diesem Jahr Nozhat zu Neujahr geschenkt hatte. Und was Chodjasteh, Manuchehr und meiner Mutter. Mich hatte man ja vergessen. Es war, als könnte Rahim meine Gedanken lesen. Er sagte, »Des Derwischs Gabe ist ein grünes Blatt.«
Er tat mir leid, und ich küßte ihn aufs Gesicht, »Rahim Djan, gehen wir deine Mutter besuchen?«
»Nein, nicht nötig. Sie wird selbst herkommen.«
»Das gehört sich doch nicht. Sie ist deine Mutter. Das ist unhöflich.«
»Nein, das ist nicht schlimm. Ihr selber ist es so lieber.«
Ich beharrte nicht darauf. Ich merkte, er wollte nicht, daß ich das Haus seiner Mutter sah.
Seine Mutter kam. Für mich hatte sie eine Bahn billigen Kleiderstoff gekauft. Solchen, wie ihn meine Mutter der lieben Amme undDadde Chanum zu Neujahr schenkte. Mir zog sich das Herz zusammen. Ich ließ mir nichts anmerken und geleitete sie respektvoll ans Kopfende des Zimmers.
»Sehr schön. Vielen Dank, Chanum. Wie geschmackvoll! Zufällig benötigte ich dringend Kleiderstoff.«
Sie verdrehte geziert ihren Kopf und setzte sich affektiert. Mein nächster Gast war meine liebe Amme, die meine Schwiegermutter augenscheinlich nicht leiden konnte. Dennoch war mir die Amme ein teurer Gast. Im kleinen Zimmer gab ich Rahim verstohlen drei Tuman.
»Rahim Djan, gib das der Amme als Neujahrsgeschenk.«
Er zog die Brauen hoch und sagte erstaunt, »So viel?«
»Ja, um meinetwillen.«
»Aber was ist denn geschehen?«
»Sprich um Gottes willen leise. Sie wird dich hören. Gib es ihr um meinetwillen.«
Ich selbst hatte der Amme schon Neujahrsgeld geschenkt. Aber ich wünschte mir, daß Rahim sich als Edelmann und Herr erweisen sollte. Ich wünschte mir, daß meine Amme ihn als Herrn des Hauses anerkannte.
Wieder kam die Amme zu Besuch. Erneut hatten mir meine Eltern keine Nachricht geschickt.
»Liebe Amme, wie geht es Chodjasteh?«
»Dein Agha Djan bringt ihr Französisch bei. Er will ein Klavier kaufen, damit Chodjasteh das Klavierspiel übt. Sie hat zu dem Agha gesagt, ›Ich will eine Prüfung ablegen und die Namuss-Schule besuchen.‹ Dein Agha Djan hat gesagt, ›Ich werde dir die besten Lehrer besorgen, damit sie dich zu Hause unterrichten.«
Ein Stachel bohrte sich mir ins Herz. Nicht vor Neid, sondern vor Bedauern. Ich fragte, »Wollen sie sie nicht verheiraten? Gibt es denn keine Kandidaten für sie?«
Ich befürchtete, die Amme würde erneut sagen, sie sei wegen meiner Mesalliance sitzengeblieben. Ich betete, daß dem
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