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Der Müllmann

Der Müllmann

Titel: Der Müllmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Wolkenwand
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vor, als wäre das alles
ewig her. Und doch war mir manches so in Erinnerung geblieben, als wäre es
gerade erst gestern gewesen. Wie der Tag, an dem die Kugel so nah an mir
vorbeiflog, dass ich sie auf meiner Haut spüren konnte, bevor sie diese junge
Frau mit Namen Anna traf. Eben hatte sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung
im Polster zurückgelehnt, im nächsten Moment hatte sich ihr Hinterkopf im Wagen
verteilt. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich sie noch. Ich
schüttelte den Gedanken und die Erinnerungen ab. »Manchmal muss man eine
Entscheidung treffen, die sich nicht mit unseren Grundsätzen vereinbaren lässt.
Dann braucht man jemanden wie mich.«
    »Beantwortest du mir eine Frage?«
    Ich sah sie lange an und seufzte dann. »Vielleicht.«
    »Weshalb warst du im Irak?«
    »Willst du das wirklich wissen?«
    Sie nickte nur.
    »Aufklärung. Ich habe arabische Sprachen studiert und kannte ein
paar Leute dort. Am Anfang war das auch alles. Wir haben Informationen
gesammelt. Wir wollten selbst wissen, was dort geschah, und nicht nur immer das
wiederkäuen, was die Amis uns zum Fraß vorwarfen.«
    »Das war aber nicht alles, nicht wahr? Du hast gesagt, du hättest
dort … Pech gehabt.«
    »Kann man so sagen.«
    »Heinrich, was du mir sagst, bleibt unter uns. Versprochen. Was ist
im Irak geschehen?«
    Zum Teufel damit, dachte ich. Gernhardts Besuch hatte mich bereits
aufgewühlt und alte Erinnerungen geweckt. Und ich hatte die Schnauze voll von
allem. Vor allem von Gernhardt. Ganz besonders von ihm.
    »Die Amis hatten ein paar Leute verloren, und wir haben versucht
herauszufinden, wo die abgeblieben waren. Dann fanden wir heraus, wer
dahintersteckte und dass die Soldaten demnächst hingerichtet werden sollten.
Wir gaben das weiter und erhielten den Auftrag, das zu verhindern, da wir das
einzige Team vor Ort waren.«
    »Und?«
    »Das Problem war, dass derjenige, der wusste, wo die Soldaten
gefangen gehalten wurden, vorsichtig war. Er hatte drei Leibwächter und verließ
sein Haus so gut wie nie. Und das war ausgebaut wie eine Festung. Aber er hatte
eine Tochter. Dreizehn Jahre alt, und meistens wurde sie von ihm und einem Leibwächter
zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Das war die einzige Gelegenheit, bei
der er das Haus verließ. Die Idee war, ihn dann zu greifen, nachdem er seine
Tochter zur Schule gebracht hatte und zurückkam. Ich sollte ihn mit einem
gezielten Schuss verwunden und die beiden Leibwächter ausschalten.«
    »Das ging schief?«
    Ich nickte knapp. »Als er zurückkam, war seine Tochter mit dabei.
Sie stieg als Erste aus und lief mir ins Visier. Ich zögerte, um auf einen
besseren Schuss zu warten, das dauerte meinem Teamkollegen zu lange, und er
eröffnete selbst das Feuer. Es war ein Fiasko. Das Mädchen starb, doch der
Vater kam davon. Wir wurden unter Feuer genommen und konnten nur mit Mühe fliehen.
Später wurde ich von zwei Kugeln getroffen und konnte nicht mehr weiter. Mein
Kollege glaubte mich tot und ließ mich zurück. Ich hatte insofern Glück, als
man mich nicht mit dem Einsatz in Verbindung brachte. Sie haben mich bewusstlos
in einer Gasse liegend gefunden. Ein irakischer Militärarzt flickte mich
zusammen, und dann hatte ich zwei Jahre Zeit, in einem irakischen Militärgefängnis
darüber nachzudenken, was mir im Leben wichtig war. Sie haben mich viermal
rausgezerrt, um mich hinzurichten. Früher oder später hätten sie es wohl tatsächlich
getan, aber dann haben sie einen amerikanischen Piloten erwischt, der bei mir
in der Zelle landete. Drei Tage später haben die Amis ihn rausgeholt. Mich
auch. Das Ganze war sinnlos gewesen, ich erfuhr später, dass man die
amerikanischen Soldaten zu dem Zeitpunkt bereits hingerichtet hatte.« Ich
seufzte. »Wir sind natürlich niemals dort gewesen. Das war mein letzter
Einsatz, als ich zurückkam, wurde ich ausgemustert und entlassen.«
    »Eine schlimme Geschichte«, sagte sie leise.
    »Du hast sie niemals gehört.«
    »Aber es ist irgendwie verständlich«, fuhr sie leise fort. »Es war
Krieg und …«
    »Es war nicht unser Krieg. Wir hatten dort nichts zu suchen«,
unterbrach ich sie. »Es war mein letzter Einsatz. Doch davor gab es viele
andere.«
    »Wie viele?«, fragte sie zögernd. »Wie viele hast du …«
    »Siebzehn.«
    »So viele?«, hauchte sie. »Wie …«
    »Ich war ein Müllmann, wie die Amis es nennen. Jemand, der den Dreck
wegräumt. Und ich habe viel Dreck weggeräumt. Ich bereue es nicht. Es war

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