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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Strophen aus dem Kontext genommenen in ein neues Gedicht. Das Gedicht, das entsteht – über Begierden, die durch die Erinnerung konditioniert werden und durch sie existieren –, steht für sich als ein emblematischer Schlüssel zu Nabokovs eigenem Stil, den er während seiner anschließenden Karriere als amerikanischer Schriftsteller in Form bringen und verfeinern sollte: ein sprudelndes Wunder der Sprezzatura.
    XXXIII
    I see the surf, the storm-rack flying …
    Oh, how I wanted to compete
    with the tumultuous breakers dying
    in adoration at her feet!
    Together with those waves – how much
    I wished to kiss what they could touch!
    No – even when my youth would burn
    its fiercest – never did I yearn
    with such a torturing sensation
    to kiss the lips of nymphs, the rose
    that on the cheek of beauty glows
    or breasts in mellow palpitation –
    no, never did a passion roll
    such billows in my bursting soul. [721] [64]
    Aber in Nabokovs zweiter Fassung dieser Strophen, die schließlich mit seiner vollständigen Übersetzung des Romans veröffentlicht wurde, verschwanden die Reime und Rhythmen. (»Bei der Übersetzung dieser fünftausendfünfhundert Verse ins Englische hatte ich zu wählen zwischen Wohlklang und Wohlverstand – und ich entschied mich für den Verstand. Mein einziger Ehrgeiz war es, einen Spickzettel, eine Eselsbrücke, eine absolut wortgetreue Übersetzung der Sache zu liefern …« [722] )
    XXXIII
    I recollect the sea before a tempest:
    how I envied the waves
    running in turbulent succession
    with love to lie down at her feet!
    How much I wished then with the waves
    to touch the dear feet with my lips!
    No, never midst the fiery days
    of my ebullient youth
    did I long with such anguish
    to kiss the lips of young Armidas,
    or the roses of flaming cheeks,
    or bosoms full of languor –
    no, never did the surge of passions
    thus rive my soul! [723]
    Dies war die Übersetzung, die Edmund Wilson bekanntlich in der
New York Review of Books
für ihre »kahle und seltsame Sprache« kritisierte, »die nichts mit Puschkin gemein hat oder mit Nabokovs normalem Stil«. Wilson fuhr damit fort zu katalogisieren, was er als Nabokovs Fehler ansah: Zum Beispiel kritisierte er »Farewell, pacific sites!/Farewell, secluded refuge!/Shall I see you?« »Nabokov übersetzt wortwörtlich ›У вижу ль вас‹«, schrieb Wilson gereizt, »was im Englischen eigentlich ›Shall I ever see you again?‹ bedeutet. Solche Stellen hören sich an, als seien sie das Produkt jener Computer, die Russisch ins Englische übersetzen sollen.« [724]
    Aber kein Computer konnte Puschkins Prestissimo-Tonänderungen auf so saubere Weise erhalten, wie Nabokov es in seiner wörtlichen Fassung der Fuß-Abschweifung schafft: vom Prosaischen über das Romantische zum unzweifelhaft Parodistischen. Die Ökonomie dieser Änderungen stellt das Wesen von Puschkins Stil dar. Indem sich Wilson nur auf die Momente konzentrierte, in denen Nabokovs wörtlichere Fassung unbeholfen wird, ignorierte er andere wichtigere Weisen, in denen Nabokov Puschkins Form treu blieb. Befreit vom Zwang der Reime konnte Nabokov klar zeigen, wie vorsichtig Puschkin die Konstruktion seiner Strophen geplant hatte – und genauso auf einer größeren Skala Puschkins Arrangement der Strophen zu Gesängen, mit ihren eigenen fingierten Lücken und Ellipsen. Im Falle von Nabokovs früherer Übersetzung, bei der ihn noch das Reimschema dazu gezwungen hatte, auszustopfen und zu beschneiden, kam es aus diesem Grund immer wieder nicht nur zu Ungenauigkeiten bezüglich der Bedeutung einer bestimmten Zeile. Wichtiger noch verdeckte sie die Sicht auf die Ausrüstung, mit der Puschkins Stil ausgestattet war. Dieser Ausrüstung blieb Nabokov jetzt uneingeschränkt treu.
    6
    Allerdings kommt natürlich alles ganz darauf an, wie man Treue definiert. Nabokovs »absolut wortwörtliche Übersetzung« ist ein flüchtiges Ideal. »Was die Musik eines Gedichts genannt wird, ist im wesentlichen die Zeit, neu gefügt auf eine Weise, daß der Gedichtsinhalt in einen sprachlich zwingenden, einprägsamen Brennpunkt gerückt wird«, schrieb Joseph Brodsky in einem Aufsatz über Anna Achmatowa. [725] Wenn dies wahr ist – wenn der Inhalt durch seine Form fokussiert wird, dann ist eine eindeutige Entscheidung für das eine oder das andere unmöglich. Stattdessen wird jede Übersetzung eine neue und provisorische Übertragung mit sich bringen.
    »Meine Methode mag falsch sein, aber es

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