Der multiple Roman (German Edition)
zwanzigsten Jahrhunderts in Argentinien in Buenos Aires entdeckt wurde, und es ist immer noch nicht klar, welchen Schluss man daraus ziehen sollte. Wir glauben beispielsweise immer noch, dass ein Roman eine Beschreibung der Welt ist. Aber wenn Macedonio recht hat, dann ist jeder Roman nichts weiter als eine Konstruktion.
Und trotzdem möchte ich traurig einwenden, dass die Welt selbst aber kein Konstrukt ist. Eine Figur ist kein Mensch. Die Bedingungen für Figuren und Menschen sind andere. Aber ich liebe den Eifer und die Geduld und die Melancholie, mit der Macedonio Fernandez zu beweisen versuchte, dass dies nicht stimmte: mit dem ganzen Gewicht seines Weltschmerzes, der Ernsthaftigkeit und Präzision, die er dem Trauma der Liebe widmete. Und im Versuch, diese unmögliche Wahrheit zu beweisen, entdeckte er die Grenzen der Fiktion.
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Oder vielleicht kann ich es so ausdrücken. Die Ausflucht ins Metaphysische ist schlichtweg eine Methode, um eine ganz alltägliche Verrücktheit auf grandiosere Weise darzustellen: dass jeder Roman das Ziel verfolgt, seine abwesenden Leser zu erschaffen. Ich denke immer wieder an Marcel Duchamp und seine Vorliebe dafür, andere Menschen in die Entstehung seiner Kunst einzubeziehen, seiner Kunstwerke auf Abstand, die anfangs nicht mehr sind als eine Sammlung von Anweisungen. Es erscheint plausibel zu sein, auf dieselbe Weise auch neu über jene versteckten Anweisungen nachzudenken, die in der geschickt konstruierten Endfassung eines Romans nicht mehr sichtbar sind und die Macedonio nur ansatzweise freilegte.
An einer frühen Stelle in
Das Museum von Eternas Roman
schreibt sich Macedonio Fernandez selbst zu, folgende Romanspezialitäten erfunden zu haben:
Den Roman Der Beginnt
Den Frustrierten Roman (ein Herstellungsfehler)
Den Roman, Der In Die Straßen Zog, mit all seinen Figuren, um sich selber zu schreiben.
Den Prolog-Roman, dessen Handlung sich, versteckt vor dem Leser, in Prologen abspielt
Den Von Den Figuren Geschriebenen Roman
Den Unfachmännischen Roman, der sich selbst die Aufgabe stellt, seine »Figuren« eine nach der anderen zu ermorden, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass literarische Kreaturen immer gemeinsam sterben, am Ende der Lektüre.
Der Roman in Stufen.
Der Letzte Schlechte Roman – Der Erste Gute Roman – Der Obligatorische Roman. [809]
Es ist so eine geistreiche, großherzige Liste. Und sie bringt mich dazu, als Hommage meine eigene Liste mit denkbaren Zukünften für den Roman zu erfinden – denkbare Experimente mit dem Konzept der Wirklichkeit und dem Konzept des Lesers:
Der Roman, von dem nur ein Exemplar existiert
Der Roman als Überarbeitung des Romans eines anderen
Der Roman mit nur einem Leser
Der multiple Roman
Mit diesem Konzept von der Endlosigkeit im Hinterkopf erinnere ich mich auch daran, dass Borges das Problem der Endlosigkeit als Problem der Fiktion in der Fiktion beschrieb – als er sich auf die 602 . Nacht bezieht:
»In dieser sonderbaren Nacht hört der König aus dem Mund der Königin seine eigene Geschichte. Er vernimmt den Beginn der Geschichte, die alle anderen umfaßt und auf ungeheuerliche Weise auch sich selbst. Begreift der Leser deutlich die weiten Möglichkeiten dieser Interpolation, die seltsame Gefahr?«
[810] Es scheint mir, dass eine Hommage immer möglich ist, ein unmittelbares Experiment. Ja, jeder kann – in jeder Sprache – sein eigenes Vorwort zu Macedonios großem Roman der Vorwörter schreiben.
Der Laden
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Was macht also letztendlich das Wesen des Romans aus? Borges argumentierte, sein Wesen sei nicht sprachlich ortbar – dass die Seele eines Romans in dessen Komposition eingebunden sei –, und ich denke, dass Borges damit recht hatte. Aber nur, wenn wir gleichzeitig anerkennen, wie schwarmähnlich diese Komposition sein kann: eine keimende Verteilung von Punkten. Und so werden die neuen Konzepte für die zukünftigen Romane, die mir vorschweben, angemessen mobil sein müssen. Sie werden die alten Vorstellungen von Form und Inhalt gehörig durcheinanderbringen müssen. Denn ich will eine Zukunft, in der es möglich ist, die folgenden Begriffe klarer zu definieren – die gleichzeitig sowohl Form als auch Inhalt sind: wie Krempel, Unordnung, Kitsch, Collage …
Ja, die zukünftigen Romane, die mir vorschweben, sollen immer verworrenere, unordentliche Collagen sein.
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Aber die Collage hat ihre eigene komplexe Geschichte. Zugegeben, ich möchte mich nicht mit der Geschichte der
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