Der multiple Roman (German Edition)
Vermeintlichkeiten. Sie enden entweder mit einem Sieg oder einer Niederlage, wobei der Sieg oftmals ein moralischer ist. Und hinter jeder Vermeintlichkeit steht eine Tatsache. Wir werden im weiteren diese Siege und Niederlagen nach Punkten werten. Das Spiel beginnt. Sehen wir zu, wer es gewinnt: Don Quijote oder seine Gegner.« Es braucht einen Leser wie Nabokov, mit seinem Talent für das Wieder-Lesen, um die Entscheidung zu treffen, eine solche Tabelle aufzustellen: Und es braucht seine Art von Talent, um so ein glückliches Resultat zu erzielen: »Wir haben also einen Endstand von 20 : 20 oder, gerechnet wie beim Tennis, 6 : 3 , 3 : 6 , 6 : 4 und 5 : 7 . Allerdings kommt es zur Austragung des fünften Satzes nicht mehr: das Spiel erfährt seinen Abbruch durch den Tod. Nach Treffern gezählt, ist der Stand ausgeglichen – zwanzig Siege, zwanzig Niederlagen. Und auch in jedem der beiden Buchteile haben wir Gleichstand: 13 : 13 bzw. 7 : 7 . Diese vollkommene Ausgewogenheit von Sieg und Niederlage ist eine wirklich große Überraschung bei etwas, das so sehr nach einem zufällig zusammengestückelten Buch aussieht. Sie verdankt sich einem geheimen Gespür im Zuge der Niederschrift, hervorgegangen aus der alles in Einklang bringenden Intuition des echten Künstlers.«
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»Alles oder fast alles, was ich geschrieben habe«, so Tolstoi, »war durch mein Bedürfnis motiviert, eng verstrickte Ideen zusammenzuführen, um mich auszudrücken, aber jede Idee, die notwendigerweise in getrennten Wörtern ausgedrückt wird, verliert ihre Bedeutung und ist verarmt unwahrscheinlich, sobald sie aus dem sie umgebenden Netzwerk entfernt wird.« Und außerdem, diese Worte lege ich Tolstoi in den Mund: »ist das Wichtigste an einem Kunstwerk, dass es eine Art Fokus besitzt – d.h. eine Stelle, an der alle Strahlen zusammentreffen oder von der diese ausgehen. Und diesen Fokus sollte man nicht völlig in Worte fassen können. Diese ist in der Tat das Wichtigste an einem guten Kunstwerk, dass sein grundlegender Inhalt in seiner Gesamtheit nur durch ihn selbst ausgedrückt werden kann.«
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Wobei dies Tolstoi gelungen war, wie mir gerade auffällt: In
Krieg und Frieden
erhob sich die pedantische Figur Berg, »küßte Weras Hand, und legte bei der Gelegenheit eine umgeschlagene Ecke des Teppichs zurecht.«
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Und das erinnert mich an John Cage, der in einem Gespräch mit Daniel Charles seine Traumarbeit als einen Wald beschreibt: »Ein Wald hat Bäume, Pilze, Vögel. Es ist möglich, die bestehenden Organisationen zu vermehren. In jedem Fall ergibt das Ganze eine Disorganisation.« Und so, denke ich, kann man auch die Struktur eines Romans beschreiben: Als einen unordentlichen Wald, dessen vielzählige Organisationen nicht anders können, als insgesamt eine hochgradig organisierte Disorganisation zu bilden.
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Und so liebt er nicht nur die metaphorische Verwandlung des Alltags, sondern umgekehrt auch die Verwandlung der alltäglichen metaphorischen Handlungen in wörtliche Sätze. In seinem Buch
Theorie der Prosa
beschrieb der revolutionäre russische Wiktor Schklovski seine Theorie, dass der literarische Stil existierte, um unser Wissen über die Wirklichkeit zu erhöhen: »um uns zu einer ›Vision‹ von diesem Objekt zu bringen, statt nur zu einer reinen ›Anerkennung‹«. Sein Beispiel war Tolstois Beschreibung einer Oper: »Mitten auf der Bühne saßen junge Mädchen in roten Leibchen und weißen Röcken. Ein junges Mädchen, das sehr fett und in weiße Seide gekleidet war, saß getrennt von den anderen auf einer niedrigen Bank, an die von hinten eine grüne Pappe angebracht war. Alle sangen sie etwas.« Dies, schrieb Schklovski, sei die Essenz des Verfremdens. Aber Dickens war schon vor ihm soweit gewesen – verwirrt von der Ontologie der Doppelbesetzung, als er
Macbeth
im Theatre Royal in Chatham sah: »Viele wundersame Geheimnisse hatte ich in diesem Heiligtum erfahren: nicht zuletzt, dass die Hexen in Macbeth eine furchtbare Ähnlichkeit mit den Thanen und anderen ursprünglichen Einwohnern von Schottland hatten; und dass der gute König Duncan in seinem Grab keine Ruhe fand, sondern es ständig verließ und sich als anderer ausgab.«
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Das dann von Henry Fielding übernommen wurde – dessen idealer Roman, den er in seiner Beschreibung so doppelt oxymoronisch definierte: als »komisches episches Gedicht in Prosa«.
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Und diese formale Eigenschaft hat einen stofflichen Zwilling: die Auferstehungen von
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