Der multiple Roman (German Edition)
wieder und geht weiter auf seinen Händen nur die natürlichen Bewegungen des ganzen Körpers, seine Beine arbeiten ohne Mühe seine Schritte zu verlängern oder zu beschleunigen. Nein!«
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Was mich an einen weiteren Modernisten mit einer Vorliebe für Ökonomie erinnert: André Breton, der im surrealistischen zwanzigsten Jahrhundert in seinem
Manifest des Surrealismus
die Romanform wegen ihrer verrückten Fixierung auf Einzelheiten angriff. Vier Jahre später, 1928 , veröffentlichte Breton seine experimentelle Erzählung
Nadja
, in der er den Verlauf einer
Amour fou
in den Straßen von Paris beschreibt. Und so, seiner Abneigung gegenüber Beschreibungen treu bleibend, fügte Breton einfach Fotos jener Orte in seinen Text ein, die er in
Nadja
erwähnte. Diese Fotos waren hilfreiche Extras und im Einklang mit Bretons Ablehnung der »moments nuls« in einem Roman. Und das ist natürlich cool: Es ist nur so, dass vor ihm schon Sterne von der Romanform gelangweilt gewesen war.
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Aber die naheliegende Geschichte über Saul Steinberg hat überhaupt nichts mit Karikaturen zu tun. Die naheliegende Geschichte spiegelt die Tragik der europäischen Geschichte wider. Steinberg wurde 1914 in Rumänien geboren. 1933 zog er nach Mailand, wo er an der Fakultät für Architektur der Regio Politecnico studierte. 1940 versuchte er ein Visum für die Vereinigten Staaten zu bekommen, um den faschistischen anti-jüdischen Gesetzen zu entkommen, die seit 1938 erlassen wurden. Er schaffte es, über Lissabon ein Visum für die Dominikanische Republik zu bekommen: Aber im September 1940 wurde er von den Portugiesen zurück nach Italien geschickt. Im November lief sein rumänischer Pass aus und er wurde staatenlos. Nachdem er sich in den Wohnungen von Freunden versteckt hatte, und zwischen Mai und Juni 1941 verhaftet und interniert worden war, erreichte Steinberg Lissabon erneut, über Barcelona. Diesmal wurde ihm die Ausreise genehmigt. Im Juli kam er endlich in der Dominikanischen Republik an – und versuchte erneut ein Visum für die USA zu bekommen. Im Mai 1942 gelang ihm dies schließlich. Am 12 . Juni 1942 kam er in Miami an und stieg in einen Bus nach New York, wo er im Prinzip den Rest seines Lebens verbrachte.
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Oder seine Zeichnung von 1954 , »The Line«, wo eine einzige zehn Meter lange Linie Brücke, Schaufenster, Horizont, Decke, Tischkante, »Meniscus« eines Schwimmbads und eine Wäscheleine ist und dann zur Linie selbst wird, die von einer auch mit Linien gezeichneten Hand gezeichnet wird.
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Ein Buch, das sich 277 Mal verkaufte. Aber wir müssen uns hier nicht mit Verkaufszahlen abgeben.
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Genau wie in
Inside a Skinhead
geht meine Entdeckung des Filmregisseurs David Fincher mit der Beobachtung einher, dass ein Filmdirektor eine seltsame Art von Autorschaft hat – die »Autorschaft beim Erschaffen eines Moments gegenüber der Autorschaft beim Erfinden einer Figur, gegenüber der Autorschaft beim Formen einer Ansicht davon, wie man etwas am besten beschreibt oder dramatisiert.«
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Einen Monat vorher war Barthes von einem Wäschetransporter angefahren worden, als er das Collège verließ – unter dem Arm, so die Legende, eine Dissertation über ›La Mort anonyme‹, die er gerade bewertete. Aber dieses Detail ist, finde ich, zu einfach. Es ist die Essenz des Anekdotischen mit seinen schillernden Details. Und dies ist das Gegenteil des Lebensnahen, des Romanhaften.
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»Dass der Schauspieler Trauer darstellen kann beweist die Unzuverlässigkeit des Zeugnisses unserer Sinne«, schrieb Wittgenstein in der gleichen Reihe von Notizbucheinträgen, »aber dass er
Trauer
darstellen kann beweist gleichzeitig die Wirklichkeit dieser Zeugnisse.«
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Und ich hoffe, dass die Léons diesen Tisch eine Weile behielten, denn dann wäre es derselbe, an dem acht Jahre später, im Jahre 1938 , Nabokov mit Lucie sitzen sollte –, als sie ihm mit dem Englisch seines ersten direkt auf Englisch, nicht auf Russisch verfassten Romans half,
The Real Life of Sebastian Knight / Das wahre Leben des Sebastian Knight
, ein Roman, in dem Nabokov sich mit der Idee beschäftigt, dass etwas Wirkliches in mehr als einer Sprache existieren kann.
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Und das bedeutet, dass es Mandelstam, genauso wie Fénéon, vor der Art und Weise grauste, wie meist über Literatur geschrieben wurde. Ständig beklagt er sich über einen mangelhaften Wortschatz: »Wieder und wieder wende ich mich an den Leser und bitte ihn, sich etwas
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