Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
Vom Netzwerk:
Werkzeuge: sie sind Trickkisten.
    44
    Und ich denke zum Beispiel an Stendhals avantgardistische Beschreibung von Waterloo. Es war nicht, wie sein Held Fabrizio dachte, ein romantisches und grandioses Ereignis. Im Gegenteil, Waterloo war das reine Durcheinander. »Der Wachtmeister trat auf Fabrizio zu. In diesem Augenblick hörte unser Held, wie hinter ihm und ganz nahe an seinem Ohr jemand sagte: ›Das ist der einzige Gaul, der noch galoppieren kann.‹ Er fühlte sich an den Beinen gepackt. Während man seinen Körper unter den Armen stützte, hob man ihn aus dem Sattel, zog ihn so über die Kruppe seines Pferdes und ließ ihn dann zur Erde niedergleiten, wo er zu sitzen kam. Der Adjutant ergriff Fabrizios Pferd am Zügel. Der General, dem der Wachtmeister dabei half, stieg auf und ritt im Galopp davon. Die noch übrigen sechs Mann folgten eilends. Fabrizio erhob sich wütend, rannte ihnen nach und schrie:
›Ladri! Ladri!‹
(Diebe! Diebe!) Es wirkte spaßig, wie er mitten auf einem Schlachtfeld Dieben nachlief.« Diese Beschreibung von Waterloo als Chaos ist eine Miniaturversion von Stendhals Roman – die avantgardistische Ironie seiner Komposition. Und das ist genau der Grund, weshalb er Tolstoi gefiel. »Ich verdanke ihm, dass ich den Krieg verstehe. Man denke nur an die Beschreibung der Schlacht zu Waterloo in
Die Kartause von Parma
. Wer hat vor ihm den Krieg so beschrieben, wie er wirklich ist? Erinnerst du dich daran, wie Fabrice das Schlachtfeld überquert ohne ›eine einzige Sache‹ zu verstehen und wie schlau die Husaren ihn über die Hinterhand seines Pferdes, seines edlen ›Generalspferdes‹ absteigen ließen? Im Kaukasus bestätigte mein Bruder mir, der vor mir Offizier war, dass diese Beschreibungen von Stendhal alle der Wahrheit entsprachen; er liebte den Krieg, war aber keiner jener einfältigen Menschen, die an die Brücke von Arcole glauben. ›All das‹, sagte er mir, ›ist
Großtuerei
 – und im Krieg gibt es keine
Großtuerei
.‹ Kurze Zeit später musste ich auf der Krim nur um mich blicken, um dies mit eigenen Augen zu sehen. Aber ich wiederhole, bei allem, was ich über den Krieg weiß, war Stendhal mein erster Meister.«
    45
    1852 , während er
Madame Bovary
schrieb, wünschte sich Flaubert etwas: »Möge ich wie ein Hund sterben, ehe ich auch nur einen Satz in Eile beende, bevor dieser völlig reif ist.« Dieser Wunsch ist ein Motiv in Flauberts Korrespondenz. 1857 , nachdem
Madame Bovary
Furore gemacht hatte, erzählte er Mademoiselle Leroyer de Chantepie, er sei »fast zu seiner alten Routine zurückgekehrt, die so ereignislos und friedlich ist und die meine Sätze zu Abenteuern werden lässt.« Und zwanzig Jahre später war das Motiv immer noch ein Motiv. »Ich kann mir einfach nicht helfen: sogar wenn ich schwimme, teste ich meine Sätze, ich kann es nicht ändern.«
    46
    Man denke nur an Joyces Schüler, Italo Svevo, der sich, als er das Gefühl bekam, er stünde vielleicht kurz vor seinem großen Durchbruch, fragte ob eine Konsequenz seines Ruhms und seines Reichtums vielleicht sein würde, dass er durch sie endlich die Möglichkeit haben würde, die Unreinheiten in seinem Italienisch auszugleichen – denn eine immer wiederkehrende Kritik an seinen Romanen war die Einfachheit ihres Stils. Aber die Originalität von Svevo hat nichts mit seinen stolprigen Sätzen zu tun. Und so hätten diese Überarbeitungen ihn paradoxerweise nur noch stilloser gemacht. Und es war ein Stottern, das teils durch das multinationale Unternehmen bedingt war, das Svevos Heimatstadt war: Triest. Denn Svevos Muttersprache war Tergestino, der triestinische Dialekt. Seine zweite Sprache war Deutsch. Seine dritte Sprache war Italienisch, die Sprache, in der er schrieb. Dies war der Grund, weshalb sein Italienisch für einige Leute das Italienisch eines Verkäufers, eines Buchhalters war –, nicht das eines Literaten. Und so musste der italienische Dichter Eugenio Montale, der Svevos Stil liebte, diesen verteidigen, indem er die Frage erhob, ob das klobige Wirrwarr von Svevos Absatz nicht »die sichere Gegenwart eines Stils« beweise? Und dem schloss er schnell an: »Es ist ein kommerzieller Stil, sicherlich, aber auch der einzige, der mit seinem Charakter harmonieren konnte.« In einem anderen Stück über Svevo beschäftigte sich Montale noch einmal mit diesem Problem von Svevos Sprache, seinem Kauderwelsch-Italienisch. Diesmal bereitete ihm der möglicherweise harmonisierend wirkende Effekt

Weitere Kostenlose Bücher