Der multiple Roman (German Edition)
Dickens’ Stil wurden – ab
Dombey and Son
– durch seine Arbeitsweise hervorgerufen: er benutzte gefaltete Blätter Papier, die er zu diesem Zweck in Abschnitte aufteilte, um seine Fortsetzungsromane mit ihren verschiedenen Teilen und Kapiteln zu konzipieren: auf diese Weise plante er das Ballett seiner Figuren, die Choreographie seiner Handlungen.
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»Das einzige, was mir bleibt und mir gehört, ist ein Blatt mit losen Notizen«, so endet Italo Calvinos Aufsatz »La Poubelle Agréée«, den er zwischen 1974 und 1976 in Paris schrieb: »die ich mir während der letzten Jahre unter dem Titel
La poubelle agréée
gemacht habe, um sie in einem Essay auszuführen:
Thema der Reinigung des Abfalls – Wegwerfen ist komplementär zur Aneignung – Inferno einer Welt, in der nichts weggeworfen würde – man ist, was man nicht wegwirft – Identifikation unserer selbst – Müllabfuhr als Autobiographie – Befriedigung durch Konsum – Defäkation – Thema der Stofflichkeit, Selbsterneuerung, bäuerliche Welt – Kochen und Schreiben – Autobiographie als Müllabfuhr – Überlieferung als Bewahrung –
und andere Stichworte mehr, deren Stellenwert und Zusammenhang ich nicht mehr rekonstruieren kann:
Thema der Erinnerung – Ausstoß der Erinnerung – verlorene Erinnerung – Bewahren und Verlieren dessen, was man verloren hat – was man nicht gehabt hat – was man zu spät gehabt hat – was wir mit uns herumschleppen – was uns nicht gehört – zu leben, ohne etwas mit sich herumzuschleppen (animalisch): man schleppt vielleicht noch mehr mit sich herum –
nur
für das Werk zu leben: man verliert sich, es kommt zum unbrauchbaren Werk, ich bin nicht mehr da.
«
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Unser gemeinsamer Freund
: »das leblose [London] einem rußigen Gespenste glich, das nicht recht zu wissen schien, ob es sichtbar werden oder unsichtbar bleiben sollte, und daher keins von beiden war.«
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Coglionissimo
: Rieseneier.
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Genau wie am Ende von
Ulysses
, als Bloom ins Bett geht und über die Untreue seiner Frau Molly nachdenkt. Und »[w]enn er gelächelt hätte«, wird im Roman gefragt, und hier spricht in Wirklichkeit der Infinitiv, »warum hätte er gelächelt?« Und der Infinitiv antwortet sich selber: »Bei dem Gedanken, daß jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt, während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist, selbst wenn er der erste einer nachfolgenden ist, insofern als sich jeder einbildet, der erste, der letzte, einzige und alleinige zu sein, während er doch weder der erste noch der letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.« Und als noch mal nach dem Grund von Blooms Gleichmut gefragt wird, ist die Antwort dieses Mal, dass Mollys Untreue schlichtweg »ebenso natürlich wie alle und jede zu Ausdruck oder Verständnis gelangende natürliche Bestätigung in natürlicher Natur« ist. »Da nicht so katastrophal wie eine kataklysmische Vernichtung des Planeten infolge einer Kollision mit einer erloschenen Sonne.« (Ulysses, S. 930 bzw. S. 932 )
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»Unzweifelhaft ist die geschlechtliche Liebe«, so Freud in seinem Aufsatz »Bemerkungen über die Übertragungsliebe«, »einer der Hauptinhalte des Lebens … Alle Menschen bis auf wenige verschrobene Fanatiker wissen das und richten ihr Leben danach ein …«.
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»– Seh Er nur her! er Schlingel, rief mein Vater und zeigte auf den Maulesel, was er da angestellt hat! – Ich war es nicht, sagte Obadiah. – Woher soll ich das wissen? versetzte mein Vater.«
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Der Junge, der sich dazu entscheidet, mit seiner Großmutter zu schlafen, rechtfertigt sich seinem Vater gegenüber mit einem zweifelhaften Argument: »Sie haben, Sir, meiner Mutter beigewohnt, sagte der Bursch’ – warum sollt’ ich nicht Ihrer beiwohnen?«
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»Sterne ist der grosse Meister der
Zweideutigkeit
,« schrieb Nietzsche in
Menschliches, Allzumenschliches II
– und sagte, Sterne sei »der freieste Schriftsteller«: »Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl,
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