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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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gehen. Und deswegen fragte ich mich, ob dies auch im Falle eines Übersetzers stimmen könnte. Oder zumindest: im Falle des schriftstellerischen Übersetzers. Denn die Moralvorstellungen des schriftstellerischen Übersetzers können sich durchaus sehr von jenen des übersetzenden Übersetzers unterscheiden. (Machen Sie das, um es mit den Worten der Fernsehmoderatoren zu sagen, nicht zu Hause nach!) Ich hatte immer an Nabokov geglaubt, ich hatte immer an Kundera geglaubt: an die Exilierten und ihren Glauben an die Treue zum Wort. Ihre strenge moralische Kritik hatte mich immer überzeugt. Aber jetzt fragte ich mich, ob nicht alle auf alles zugreifen können? Ja: Ich fragte mich, ob diese römische Geschichte die Notwendigkeit der römischen Chuzpe beweist: Die imperialistische römische Logik, die sich zum Beispiel darin äußert, eine griechische Statue so umarbeiten zu lassen, dass sie das Gesicht der eigenen, verstorbenen Frau trägt?
»Übersetzungen«
, schrieb Nietzsche, mein persönlicher Philosoph der Multiples …
    Man kann den Grad des historischen Sinns, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit
Übersetzungen
macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneilles, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Altertums in einer Weise, zu der wir nicht den Mut mehr hätten – dank unserm höhern historischen Sinne. Und das römische Altertum selbst: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen ältern Altertums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urteilen
dürfen
): was lag ihnen daran, daß der eigentliche Schöpfer dies und jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte! – als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold; als Dichter ließen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle … Sie kannten den Genuß des historischen Sinns nicht; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte – nicht nur so, daß man das Historische wegließ: nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle – nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des
imperium Romanum
. [337]
    Letztendlich ist kein Platz für den historischen Sinn, jedenfalls nicht in meinem gewagten Projekt des kollektiven Übersetzens: Es konnte jetzt nicht nur über Sprachgrenzen hinweg kollektiv sein, sondern auch über große Zeiträume. Man ersetzt die alte Gegenwart mit der neuen Gegenwart, so dass die alte Gegenwart am Leben bleibt. Es ist nicht die Art von Moral, an die wir gewohnt sind, aber diejenige, die mir Gaddas Verrücktheit aufzwang. So dachte ich weiterhin auf diese römische und imperialistische Weise. Und ich fragte mich, ob dies nicht eine mögliche Lösung für das Problem sein könnte, Gadda in verschiedenen Sprachen zu vervielfältigen. Dass man einfach diesen Anspruch der Texttreue aufgeben musste, diesen Anspruch der Treue zu jeder noch so kleinen Bewegung innerhalb von Gaddas Strukturen, und stattdessen etwas machen sollte, das ähnlich war, aber anders. Dass man im Prinzip wegnehmen und ändern konnte, was immer man wollte, und es trotzdem es selbst bliebe. Ich konnte splitten, ein Multiple herstellen. Denn schließlich gibt es keine Systeme. Es gibt nur Unterschiede. Es gibt nur Deformationen.

10
    Und so wendete ich mich noch einmal den ersten Seiten von Gaddas größtem Roman,
Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana
, zu, wo diese systematische Ablehnung aller Systeme mit einer Art Ouvertüre eingeleitet wird, wo der Detektiv und Held Don Ciccio mit seiner Theorie vom
Pasticciaccio
, vom Durcheinander, aufwartet. Ja, man hört, wie er seine Theorie vorstellt, »daß die unvorhersehbaren Katastrophenfälle nie die

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