Der Musentempel
zurück. Ministranten und Priesterinnen trennten behende die Auserwählten von den Nichtauserwählten. Natürlich betrat die gesamte königliche Gesellschaft den Tempel, einschließlich ihrer römischen Gäste.
Dahinter drängte eine große Menschenmenge herein, so daß der Tempel bald bis auf den letzten Platz mit Gläubigen gefüllt war.
Im Innern roch es ein wenig besser als bei meinem letzten Besuch. Der Gott hatte seinen Umhang aus Stierhoden dankenswerterweise abgelegt, und das Blut war vom Boden geschrubbt worden. Die Luft war geschwängert von Weihrauchschwaden. Ein einzelnes Oberlicht ließ direkt vor dem Standbild einen Lichtstrahl in den Raum fallen, der nur noch von einigen wenigen flackernden Kerzen und den Weihrauchrosten beleuchtet wurde.
Ataxas hatte vor der Statue Aufstellung genommen und stimmte einen hohen, klagenden Singsang in einer fremden Sprache an. Ich nahm zumindest an, daß es sich um eine Sprache handelte. Es hätte genausogut eine möglichst unheimlich klingende Aneinanderreihung von sinnlosen Silben sein können. Gedämpftes Tamburinschlagen und Sistrarasseln hob an, bevor die Ministranten einen leisen, fast geflüsterten Gesang aus ähnlich unverständlichen Worten oder Lauten anstimmten.
»Ich werde seine Lippen beobachten, um zu sehen, ob sie sich bewegen, wenn er spricht«, sagte einer der Botschaftsmitarbeiter.
»Wie willst du das erkennen«, erwiderte Rufus. »Allem Anschein nach sind seine Lippen von Lepra zerfressen.«
»Pssst«, machten mindestens hundert Umstehende.
Wir Ehrengäste standen in einem Kreis, der eine Fläche um die Statue freiließ. Ein Rost heißer Kohlen brannte direkt vor dem Ding und ließ eine dünne Rauchsäule aufsteigen. Ein Ministrant überreichte Ataxas mit gesenktem Kopf eine silberne Schale und wich zurück. Ataxas hielt die Schale hoch in die Luft und hob erneut an zu sprechen, diesmal auf griechisch: »Großer Baal-Ahriman! Erhöre deine zitternden, flehenden Anhänger!
Besuche sie, wie du verheißen hast! Gewähre ihnen die Gnade deiner göttlichen Worte, führe sie auf dem Weg, den du gewiesen hast. Großer Baal-Ahriman, sprich zu uns!«
Mit diesen Worten entleerte er den Inhalt der Schale auf den Kohlenrost vor dem Gott, und eine Rauchwolke stieg auf, den Geruch von Weihrauch verbreitend. Ataxas fiel auf die Knie und verbeugte sich tief, die Schale gegen den Bauch gepreßt. Der Lichtstrahl aus dem Oberlicht fiel direkt auf ihn.
Es herrschte völlige Stille. Ich glaube, niemand wagte zu atmen. Die Spannung dehnte sich ins Unerträgliche, wie eine überspannte Lyrasaite, die jeden Augenblick reißen könnte, bis ein Moment erreicht war, in dem ein einziger Lacher diese sorgfältige und kunstvolle Inszenierung zerstört hätte. Doch dann, mit sicherem Gespür für das perfekte Timing, sprach der Gott.
»AIGYPTIOI!« Das Ganze natürlich auf griechisch, und ich habe das erste Wort in dieser Sprache wieder gegeben, weil es so eindringlich klingt. Das Wort schien bis in den letzten Winkel des Tempels zu dröhnen, eine tiefe, steinerschütternde Stimme, donnernd wie ein Wasserfall. Der ganze Raum hielt den Atem an, etliche Menschen fielen in Ohnmacht. Wir Römer, die wir aus härterem Holz geschnitzt sind, genehmigten uns einen raschen Schluck und lauschten dem Rest der göttlichen Weissagung.
»ÄGYPTER! ICH, BAALAHRIMAN, SPRECHE zu EUCH ALS DIE NEUE STIMME DER GÖTTER ÄGYPTENS!
ICH SPRECHE mIT DER STIMME DER URALTEN GÖTTER AMUN, HORUS, Isis UND OSTRIS, APIS UND SUKHMET, THOT, SOBEK, ANUBIS, NUT UND SETH! ICH SPRECHE MIT DER STIMME DER HAPI VOM OBEREN NIL UND DES HAPI VOM UNTEREN NIL, ICH SPRECHE ALS DER DJED PFEILER UND DIE FEDER DER MAAR! ICH SPRECHE MIT DER STIMME DER GÖTTER GRIECHENLANDS: ZEUS, APOLLO, ARES, DIONYSOS, HERMES, HADES, APHRODITE, HERA, ATHENA, HEPHAISTOS UND PAN. ICH SPRECHE FÜR ALLE PHARAONEN ÄGYPTENS UND FÜR DIE GÖTTER ALEXANDRIAS, SERAPIS UND FÜR DEN GÖTTLICHEN ALEXANDER!«
Und bei all diesen Verkündigungen schien sich der Mund der Statue tatsächlich zu bewegen! Die Kiefer wurden nicht durch mechanische Gelenke bewegt. Eine so krude Täuschung hätten wir sofort bemerkt. Statt dessen bewegte sich der Mund in einer Weise, die aufs Subtilste mit den gesprochenen Worten abgestimmt schien. Dazu flackerten in dem Mund Lichtstrahlen auf wie blasse Blitze, als ob man die Worte des Gottes nicht nur hören, sondern auch sehen könnte. Ich wußte, daß wir irgendwie getäuscht wurden, aber mich überfiel trotzdem ein
Weitere Kostenlose Bücher