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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Steigerungswellen, vom Erreichen diverser Höhepunkte, vom Abebben nach dem Höhepunkt. Der Zusammenhang von Musik und Sexualität ist nicht erst seit Elvis »the Pelvis« (»das Becken«) offenkundig, sondern wird bereits in kirchlichen Verbotskatalogen des 13. und 14. Jahrhunderts manifest. Gern darf man auch in die Antike zurückblicken, wo ja die Mänaden, diese wilden Weiber, den armen Songwriter Orpheus zerreißen, weil er ihnen nur eins singen will, und sonst gar nichts. Das Herumgestöhne in diversen Rock- und Popsongs ist durchaus verbreitet, und ein Stück wie Maurice Ravels BOLERO (1928) mit seinem riesigen Orchestercrescendo lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Das ist der wohl krachendste Orgasmus in der Musikgeschichte. Aber spricht man körpermetaphorisch mit Vokabular aus dem Bereich »Goldene Mitte« über Musik? Ich wüsste es nicht. Vielleicht bei Theodor W. Adorno in der Philosophie der neuen Musik : Im Strawinsky-Kapitel ist die Rede davon,dass man bei diesem Komponisten immer vergeblich auf Spannungs-Auflösung, auf Erfüllung wartet, darauf, dass »es« kommt (und das »es« wird beziehungsvoll freudianisch in Anführungszeichen gesetzt). 27

9. Über die Dummheit in der Musik
    Kurzanalysen: Robert Steidl WIR VERSAUFEN UNSER OMA SEIN KLEIN HÄUSCHEN; Dmitri Schostakowitsch POLKA aus Das Goldene Zeitalter; Hanns Eisler/Kurt Tucholsky ZUCKERBROT UND PEITSCHE; Elvis Presley IN THE GHETTO; The Beatles THE FOOL ON THE HILL; Bob Dylan KNOCKIN’ ON HEAVEN’S DOOR; Hanns Eisler/Bertolt Brecht KÄLBERMARSCH; Drafi Deutscher MARMOR, STEIN UND EISEN BRICHT (Weine nicht, wenn der Regen fällt)
Allgemeines
    Viele kennen die lateinische Redensart »Errare humanum est«, Irren ist menschlich. Aber kaum jemand weiß, dass diese Redensart einen sehr wichtigen zweiten Teil hat: »Errare humanum est, in errore perseverare stultum« – Irren ist menschlich, im Irrtum verharren ist dumm. Dumm – dumpf – doof – taub: das hat etymologisch identische Wurzeln. Eine dumme Nuss, das ist ein doofer Typ, also jemand mit taubem Kern. Wir alle kennen solche dummen Nüsse, und wenn wir Pech haben, sind wir selbst gemeint, zumindest manchmal. Und wir alle kennen auch die leidenschaftliche Selbstanklage: Mein Gott, wie konnte ich nur soo doof sein.
    Lichtenberg, der große Aphoristiker des 18. Jahrhunderts, sagte: »Es stimmt nicht, daß gegen die Dummheit kein Kraut wächst. Es wird nur keines angepflanzt.« 28
    Von Albert Einstein stammt die Einsicht: »Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die Dummheit der Menschen. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.« Das also sagte ein ausgewiesener Philanthrop, also ein Menschenfreund, der aber gleichzeitig Realist war. »Wenn jemand Freude daranhat, bei Musik in Reih’ und Glied zu marschieren, dann verachte ich ihn schon deswegen, weil er sein Gehirn nur wegen eines Irrtums bekommen hat; ein Rückenmark hätte gereicht.« 29
    Dummheit und Schlauheit schließen sich aber nicht aus, wie schon Kurt Tucholsky wusste, der da sagte: »Das Volk ist doof, aber gerissen.« 30 Also: Auch dumme Nüsse mit dumpfem Hirn (denken wir daran, wie ähnlich Walnusskerne dem menschlichen Gehirn sind) können Vorteile geschickt für sich nutzen. Als Beweis genügen zwei, drei Blicke ins Personal von Politik, Wirtschaft und Finanzwesen.
    Kurt Tucholskys »Das Volk ist doof, aber gerissen« entstammt dem kleinen Beitrag »Ein Volkslied« in der Weltbühne von 1922 und ist aktuell bis heute. Und damit haben wir auch einen Sprung in die Musik getan. Tucholsky führt aus:
    »In deutschen Landen ist augenblicklich ein Lied im Schwange, das den vollendetsten Ausdruck der Volksseele enthält, den man sich denken kann – ja, mehr: das so recht zeigt, in welcher Zeit wir leben, wie diese Zeit beschaffen ist, und wie wir uns zu ihr zu stellen haben. Während der leichtfertige Welsche sein Liedchen vor sich hinträllert, steht es uns an, mit sorgsamer, deutscher Gründlichkeit dieses neue Volkslied zu untersuchen und ihm textkritisch beizukommen. Die Worte, die wir philologisch zu durchleuchten haben, lauten:
    Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen –
    sein klein Häuschen – sein klein Häuschen –
    und die erste und die zweite Hypothek!
    Bevor wir uns an die Untersuchung machen, sei zunächst gesagt, daß das kindliche Wort ›Oma‹ so viel bedeutet wie ›Omama‹, und dieses wieder heißt ›Großmutter‹. Das Lied will also besagen: ›Wir, die

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