Der Musikversteher
Roll ist auch eine andere, rhythmische Gleichzeitigkeit: In der Singstimme hören wir rasche, swingend-ternäre Achtel, sehr »groovy« artikuliert, während die typische Achtel-Begleitfigur der Gitarre mit den Ton-Repetitionen (man lernt sie auch heute noch so im Anfängerunterricht) gerade-binär ist und auf jeder Blues-Harmoniestufe wiederholt wird: //:es-es g-g b-b c 1 -b:// (dann auf as, wieder es, b, as und von vorn).
Der Song hat die einfachste Version des Blues-Schemas, mit einer Ausnahme: Statt der vier eröffnenden Takte I. Stufe/Tonika sind es jetzt, verdoppelt, acht. So einfach das ist, es hat dramaturgische Raffinesse: Wenn dann in Takt neun die IV. Stufe (As-Dur) kommt, wird sie als Ereignis inszeniert, erstmals mit durchgängigem Beat, es erklingen alle Instrumente, reich figuriert – »es geht los«, der achttaktige »Stau« löst sich.
Sehr typisch auch das instrumentale »Break« ab 1’15’’, und da hören wir auch die Normalität des zwölftaktigen Bluesmodells. Um so schöner, wenn direkt danach wieder die Erweiterung auf 16 Takte kommt.
Der frühe Elvis machte seinen bemerkenswerten Weg von Country über Rockabilly zu R&B und Rock ’n’ Roll; die Letzteren waren in den Fünfzigern eine gewaltige Provokation in den USA – nicht nur in den Südstaaten, besonders dann, wenn »Weiße« das übernahmen und auch noch mit sexuellen und sozialen Anzüglichkeiten spickten. Die Knastszenerie des JAILHOUSE-ROCK«entwirft eine ironisch-scheinfröhliche Szenerie von Gefängnis-Zuständen, die schon damals absolut nichts Fröhliches hatten.
Rolling Stones SATISFACTION (1965)
– http://www.youtube.com/watch?v=m6Ts8XS_UO4
Was bei Chuck Berry, Elvis, Bill Haley und anderen schon sexuell provozierte, zelebrierten Mick Jagger und die Seinen seit den mittleren Sechzigern – auch um sich von den Beatles abzusetzen – besonders intensiv. Nicht nur die Leadgitarre, auch der E-Bass wurde gern so sexualisiert inszeniert (musikalisch wie in der Gesamt-Performance), dass sich mir als popularfreudianisch vorgebildetem Jugendlichem ein schrecklicher Verdacht aufdrängte: Der Phallus ist nur ein Gitarrensymbol.
SATISFACTION ist eine Gemeinschafts-Produktion von Keith Richards und Mick Jagger. Richards setzte für das – den Song dominierende – instrumentale Riff eine gerade entwickelte verzerrende Klangfarbe der E-Gitarre ein, die genauso für seine Unverwechselbarkeit sorgte wie seine melodische und rhythmische Struktur, die eine Ohrwurm-Qualität garantiert: ein schlichter Gang in E-Dur vom 5. über den 6. zum 7. Ton (Blue Note) der Blues-Skala und zurück, mit einprägsam verteilten Tonrepetitionen und rhythmischen Onbeat und Offbeat-Abwechslungen, sehr individuell artikuliert:
Durch den Offbeat ist also der Spitzenton der Linie, die Blue Note d, ganz besonders hervorgehoben. Dazu kommt noch ein harmonischer Clou: Dieser 7. Ton ist normalerweise ein Bestandteil der I. Stufe, hier also der Tonika E-Dur, aber die Stones setzen unter ihn die IV. Stufe, A-Dur, und machen ihn so zu einer Quartdissonanz. Zwei völlig unspektakuläre Normalitäten,die Blue Note des 7. Tons und die IV. Stufe des Blues-Schemas, werden so kombiniert, dass eine Individualität entsteht.
Sonst zeichnet sich der Song, der gern ganz vorn auf der Liste der »besten Songs aller Zeiten« angesiedelt wird, durch eine große Simplizität aus. Die drei R&B-Akkorde I, IV und V mit ihren Blue Notes sind da, die Melodie der Singstimme folgt schlicht den Akkordtönen. Aber auch hier die Individualisierung: eine wunderbar »getimte« Laut-leise-Dramaturgie der Stimme von Mick, ebenso eine solche der Stimmlagen. So wird die sich am Dur-Akkord E-Dur reibende Blue Note der Moll-Terz g in höchster Lage quasi herausgeschrieen: »I can’t get no …«
Mick Jaggers Text wird gern auf sexuelle Aspekte reduziert. Ein genauer Blick auf die Lyrics zeigt aber, dass hier die sehr allgemeine Unzufriedenheit der rebellierenden Jugend mit den oberflächlichen Konsumreizen, mit den Medien, der »useless information« ihrer Gegenwart im Vordergrund steht.
Sex Pistols GOD SAVE THE QUEEN (1977)
– http://www.youtube.com/watch?v=MeP220xx7Bs
Dieser Song kokettiert offen mit dem musikalischen Dilettantismus, der sich aber als Revolte gegen die tradierten Werte derenglischen Klassengesellschaft der siebziger Jahre versteht. Und wenn die Zielscheibe der revoltierenden Aggression die Queen ist – als reale Person und als Symbol der erstarrten
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