Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer
nicht nachvollziehen.“
„Wann war denn all das?“
„Lass mich überlegen, wir waren um die zehn Jahre alt.“ Beate hob zum Nachdenken den Blick. „Die Reihengräber, in denen Anne beerdigt war, werden so circa fünfundzwanzig Jahre lang Ruhezeit gehabt haben. Das kommt hin. Sie wird 1980 gestorben sein, wir waren noch im vierten Schuljahr. An die Beerdigung kann ich mich noch gut erinnern. Die ganze Grundschule war dabei.“ Beates Blick ging ins Leere. Dann sagte sie: „Das ganze Dorf hat getuschelt, wegen Annes Vater.“ „Warum wegen Annes Vater?“
„Na – weil er nicht dabei gewesen ist. Und kurz darauf war er dann fort. Richtig fort. Von heute auf morgen war er weg und hat nichts mehr von sich hören gelassen.“ Beate seufzte. „Tja, und jetzt hat die arme Frau Hurth nicht einmal mehr diese Anlaufstelle auf dem Friedhof. Ist es nicht schrecklich, dass sie schon damit begonnen haben, die Familiengräber an dieser Stelle anzulegen? Hast du den Bagger gesehen? Das muss für Clärchen doch furchtbar sein.“
In diesem Moment hörten die Schwestern einen schrillen Schrei und blickten sich bestürzt an. Beinahe gleichzeitig sprangen sie auf. Sie eilten im Laufschritt um die Ecke, blickten den Weg hinauf und sahen, dass dort eine menschliche Gestalt auf dem Boden lag. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass es Clara Hurth war, sie musste gestürzt sein. Der Gehstock lag ein Stück weit vor ihr, gerade so, als sei sie rückwärts getaumelt.
„Um Himmels Willen, Frau Hurth!“ Beate war als Erste bei der alten Dame, „was ist denn nur passiert?“ Die Frau hielt eine Hand vor den Mund gepresst, ihre Augen waren schreckgeweitet.
„Können Sie aufstehen?“
Clara Hurth schien wie von Sinnen. Sie reagierte gar nicht auf die jungen Frauen, hielt sich weiter die Hand vor den Mund gepresst und murmelte unverständliche Dinge.
„Hast du ein Handy dabei?“, fragte Beate ihre Schwester.
„Ja, im Auto.“ Sonja rannte los, ihren Wagen hatte sie auf dem Parkplatz vor der Kirche abgestellt.
Beate redete derweil sanft auf die alte Frau ein. Nur langsam beruhigte die sich und nahm wahr, dass jemand bei ihr kniete. Mit zitternder Hand deutete sie schließlich in die Richtung, wo vor einer Stunde noch der Bagger gearbeitet hatte. Jetzt war es ruhig und still auf dem Friedhof. Außer ihnen gab es keine weiteren Besucher mehr. Beates Blick folgte dem zitternd ausgestreckten Finger, und weil sie nicht gleich erkennen konnte, was die Frau ihr zeigen wollte, erhob sie sich und ging ein Stück auf den frischen Erdaushub zu. Bei dem, was sie dann erblickte, weiteten sich auch ihre Augen. „Das ist ja ungeheuerlich“, murmelte sie. Sie drehte sich wieder um zu der alten Dame, und auch Sonja war zurück. „Sie blutet am Kopf. Ein Krankenwagen ist unterwegs.“
„Dann solltest du gleich noch bei der Presse anrufen. Da werden die Jungs von unserer Tageszeitung endlich mal wieder etwas Aufregendes zu schreiben kriegen!“ Beate deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Erdhügel. Sonja erschrak.
Im Regionalteil der Tageszeitung erschien es gleich am nächsten Tag: „Knochenfund schockt Friedhofsbesucher“, so lautete die Schlagzeile.
„Eine alte Dame war vom Anblick der gefundenen Schädelteile derart schockiert, dass sie auf der Stelle zusammenbrach und mit leichten Verletzungen in eines der umliegenden Krankenhäuser gebracht werden musste.“, zitierte Beate eine Stelle aus dem Zeitungsartikel. „Wir sollten sie besuchen“, sagte sie gleich darauf zu ihrer Schwester.
Und im ganzen Ort sprach man darüber: „Das arme Clärchen. Zusammengebrochen, mitten auf dem Friedhof. Genau, wie vor Jahren, als man ihre Tochter zu Grabe getragen hatte, sogar an der gleichen Stelle.“
Man machte hinter vorgehaltener Hand auch den Mitarbeitern der Stadt große Vorwürfe. Nachlässig seien sie gewesen. Und dass so etwas doch keinesfalls passieren dürfe. Man hatte etwas zu reden, eine willkommene Abwechslung im trüben Herbstalltag.
Und noch einer war aufmerksam geworden: Kommissar Becker, ein pensionierter Kripo-Beamter aus dem Ort, hatte sich bereits beim Lesen des Zeitungsartikels gewundert, und jetzt machte er sich auf den Weg, um sich selbst ein Bild zu machen. Nachdem er den Friedhof und die Knochenfundstelle ausgiebig in Augenschein genommen hatte, führte sein Weg direkt zur Kripo nach Trier, wo er selbst über dreißig Jahre lang gearbeitet hatte.
„Was mich stutzig gemacht hat“, gab er dort an, „war
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