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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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fielen. Andere, wie Jaspin, der zwei Jahre zuvor aufgrund eines Fiebers dem Wahnsinn verfallen war, mussten gefesselt werden, weil sie sonst für andere gefährlich geworden wären.
    Gelähmte, Verkrüppelte, Katatoniker und Spastiker – Trapis pflegte sie alle mit nimmer endender Geduld. Nie hörte ich ihn über irgendetwas klagen, nicht einmal über seine Füße, die stets geschwollen waren und ihm beständig Schmerzen bereitet haben müssen.
    Er ließ uns Kindern jede erdenkliche Hilfe zuteil werden und gab uns zu essen, wenn er etwas erübrigen konnte. Um uns dieses Essen zu verdienen, trugen wir für ihn Wasser, schrubbten seine Böden, erledigten Besorgungen und Botengänge und hielten die Kleinkinder auf dem Arm, damit sie nicht weinten. Wir taten alles, worum er uns bat, und wenn es bei ihm einmal nichts zu essen gab, gab es doch auf jeden Fall ein paar Schluck Wasser, ein müdes Lächeln und jemanden, der uns mit einem Blick ansah, der uns sagte, dass wir Menschen waren und keine in Lumpen gehüllten Tiere.
    Manchmal schien es, als wäre Trapis der einzige, der sich in unserer Gegend von Tarbean um all die hoffnungslosen Geschöpfe kümmerte. Dafür liebten wir ihn mit einer Innigkeit, wie sonst nur Tiere sie aufzubringen vermögen. Hätte einmal jemand die Hand gegen ihn erhoben, so wären hundert kreischende Kinder mitten auf der Straße über ihn hergefallen.
    In den ersten Monaten besuchte ich ihn oft in seinem Keller, später dann immer seltener. Trapis und Tanee waren eine angenehme Gesellschaft. Man musste nicht viel mit ihnen reden, und mir war das nur recht so. Die anderen Straßenkinder aber machten mich fürchterlich nervös, und so kam ich irgendwann nur noch selten dorthin, und nur, wenn ich dringend Hilfe brauchte oder etwas zum Teilen hatte.
    Dennoch war es gut zu wissen, dass es einen Ort in der Stadt gab, wo man nicht nach mir trat, mich nicht verscheuchte oder bespuckte. Wenn ich alleine auf den Dächern unterwegs war, half es mir zu wissen, dass es Trapis und seinen Keller gab. Es war beinahe so etwas wie ein Zuhause, zu dem man immer zurückkehren konnte. Beinahe.

Kapitel 22
    Eine Zeit für Dämonen

    I ch lernte vieles in jenen ersten Monaten in Tarbean.
    Ich lernte, welche Wirtshäuser und Restaurants das beste Essen fortwarfen, und wie verdorben Essen sein muss, damit man krank davon wird.
    Ich lernte, dass der ummauerte Gebäudekomplex in Hafennähe der Tempel Tehlus war. Die Tehlaner teilten manchmal Brot aus und ließen uns Gebete sprechen, ehe wir uns einen Laib nehmen durften. Mir machte das nichts aus. Es war einfacher als zu betteln. Manchmal versuchten die graugewandeten Priester mich in die Kirche zu locken, damit ich dort meine Gebete sprach, aber ich hatte gewisse Gerüchte gehört und lief fort, wenn sie mich dazu einluden, ob ich mein Brot nun schon bekommen hatte oder nicht.
    Ich lernte mich zu verstecken. Ich hatte ein geheimes Versteck über einer alten Gerberei, wo sich drei Dächer trafen, die Schutz vor Wind und Regen boten. Bens Buch versteckte ich, in Segeltuch eingeschlagen, unter den Dachsparren. Ich nahm es nur selten zur Hand, wie eine Reliquie. Es war der letzte Gegenstand, der mich mit meiner Vergangenheit verband, und ich hütete es wie meinen Augapfel.
    Ich lernte, dass Tarbean riesengroß ist. Um das zu verstehen, muss man es selbst gesehen haben. Es ist wie mit dem Ozean. Ich könnte euch von den Wogen und dem Wasser berichten, aber eine Ahnung von seinen Ausmaßen bekommt ihr erst, wenn ihr einmal selbst an seinem Ufer steht. Man versteht den Ozean erst, wenn man mittendrin schwimmt, rings von Wasser umgeben, das sich bis in unermessliche Weiten erstreckt. Erst dann erkennt man, wie klein und machtlos man ist.
    Tarbeans ungeheure Größe ist auch dem Umstand geschuldet, dass es aus tausend Teilen besteht, die jeweils einen eigenen Charakter haben. Downings, Drover Court, Wash, Middletown, Tallows, Tunning, Dockside, Tarway, Seamling Lane … Auch wenn man sein ganzes Leben in Tarbean verbrachte, war nicht gesagt, dass man alle Stadtteile kannte.
    Aber praktisch gesehen bestand Tarbean aus zwei Teilen: Waterside und Hillside. In Waterside sind die Leute arm. Sie sind Bettler, Diebe und Huren. In Hillside sind die Leute reich. Sie sind Anwälte, Politiker und Kurtisanen.
    Ich war zwei Monate in Tarbean, als mir zum ersten Mal in den Sinn kam, es mit dem Betteln in Hillside zu versuchen. Der Winter hatte die Stadt fest im Griff, und wegen der

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