Der Narr und der Tod
denken.
„Das müssen sie sein! Gettysburg Street 1856.“ Martin schloss das Telefonbuch und legte es mit deutlich besserer Laune zurück in die Schublade.
„Wer nennt denn eine Straße nach Gettysburg?“, fragte ich leicht entrüstet.
Martin musterte mich mit hochgezogenen Brauen.
„Ach so.“ Beschämt senkte ich den Blick. Ich gehörte gewiss nicht zu diesen ewig gestrigen Südstaatlern, die den Bürgerkrieg immer noch als Angriff der nördlichen Aggressoren bezeichneten, aber so ganz unvoreingenommen war ich wohl auch nicht. Ich streckte meinem Yankee-Ehemann die Zunge heraus. Wahrscheinlich hatten die Leute hier auch eine Appomattox Avenue.
Schnell packten wir Haydens Sachen in die Wickeltasche, bauten ein letztes Mal das Bett ab und gingen vorsichtig über die Treppen zu unserem Auto. Keiner von uns hatte auch nur eine Tasse Kaffee getrunken, von Frühstück ganz zu schweigen, aber das war völlig unwichtig. Jetzt ging es nur darum, Hayden an qualifiziertes Betreuungspersonal abzugeben.
Da Corinth nicht viel größer als Lawrenceton war, fanden wir das Haus der Harbors schnell. Ein wenig bestürzt war ich schon, denn es schien mir von außen eine düstere Version des Heims zu sein, bei dem wir Rory am Vorabend abgeliefert hatten: Der ehemals weiße Anstrich der Holzverkleidung war in großen Teilen abgeblättert, und im Garten ließ sich nicht ein Grashalm entdecken.
Martin und ich vermieden es, einander anzusehen, als wir zögernd aus dem Auto stiegen. Ich öffnete die hintere Wagentür, um Hayden zu holen. Er schlief tief und fest und rührte sich auch nicht, als ich eine von Ellen Lowrys blauweißgestreiften Decken um seinen Kopf drapierte, weil ein kalter Regen eingesetzt hatte. Martin hielt schützend einen Regenschirm über uns, und so suchten wir unseren Weg zum Hauseingang. Beim Anblick der zerrissenen Vorhänge an zwei der vorderen Fenster wurde mir schwer ums Herz. Wir hatten die Harbors bei Reginas Hochzeit kennengelernt – wer hätte gedacht, dass sie so lebten?
Andererseits wuchsen Kinder auch in ärmlichsten Verhältnissen gesund auf und wurden geliebt – wer war ich eigentlich, hier arrogant die Nase zu rümpfen? Nur bereitete mir nicht die vom Haus ausgestrahlte Armut Bauchschmerzen, sondern das Gefühl, dass hier Leute lebten, die aufgegeben hatten. Es machte ihnen alles nichts mehr aus: nicht die abblätternde Farbe, nicht der Mangel an Sträuchern und Buschwerk, um die kahle Fassade ein wenig zu beleben, nicht das Fehlen von Gehwegplatten, die bei Besuchern an Regentagen für trockene Füße hätten sorgen können. Vor der Tür lag noch nicht einmal eine Fußmatte, auf der ich mir die Schuhe hätte abtreten können, und solche Matten konnte man für zwei Dollar kaufen.
Aber jemand hatte eine große, schwarze Schleife an den Türknauf gehängt, um zu zeigen, dass in diesem Haus getrauert wurde.
Martin legte den Arm um mich, ehe er sich vorbeugte, um zu klopfen. Ich lehnte mich an ihn und genoss die Wärme, während ich zerstreut Haydens kleinen, runden Po tätschelte.
Nur mit Mühe erkannte ich in der Frau, die öffnete, Lenore Harbor, die mir bei der Hochzeit vorgestellt worden war. Sie hatte sich damals große Mühe gegeben, stellte ich fest, hatte sich frisieren lassen, neue Schuhe und ein neues Kleid getragen. Außerdem hatte sie nicht geraucht. Jetzt hing in einem ihrer Mundwinkel eine Zigarette, die wackelte, als sie uns aus dem anderen Mundwinkel ansprach.
„Ich hatte fast schon mit Ihnen gerechnet. Kommen Sie lieber mal rein. Aufgeräumt ist nicht, dazu hatte ich keine Zeit. Auch nicht zum Putzen. Sie werden verstehen, dass uns die Nachrichten von Craig völlig umgehauen haben.“
Sie klang heiser, aber nicht so, wie ich es erwartet hatte. Traurig, aber keineswegs verzweifelt. Sie war ja auch nicht Craigs richtige Mutter ... das Herz wurde mir noch schwerer.
Obwohl ich mir Mühe gab, mich nicht umzusehen, war es unmöglich, die Schwermut nicht zu erfassen, die über den uralten Möbeln und dem fleckigen Linoleum hing, den Überfluss an überquellenden Aschenbechern und achtlos beiseitegelegten Illustrierten. Die Harbors hatten ein paar Topfpflanzen und Beileidskarten erhalten, die jetzt alle fein säuberlich aufgereiht auf einer hässlichen Walnusskommode standen. Die Schleifen an den Blumentöpfen standen in einem scharfen Kontrast zum Rest der Gegenstände in dem schäbigen Wohnzimmer. Aber nicht das Alter der Möbel störte mich, auch nicht die vielen
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