Der nasse Fisch
Venuskeller gab es sogar noch freie Tische, ohne dass man einen Kellner bestechen musste. Kein Wunder: Erst kurz nach zehn, die Nachtschwärmer
kamen später. Die Band spielte sich dennoch schon die Seele aus dem Leib. Und die ersten Gäste versuchten, mit ihrer Unterhaltung
dagegen anzukommen.Statt der Indianernummer durfte Rath diesmal eine Haremsdamen-Vorführung bewundern. Zwei etwas zu rund geratene Frauen in
pastellfarbenen, halbdurchsichtigen Schleiern, die sich gegenseitig entkleideten. Nicht sehr erotisch. Wahrscheinlich sparten
sie sich die scharfen Nummern für später auf.
Rath hätte nicht gedacht, noch einmal freiwillig hier aufzutauchen. Und nun saß er hier und kämpfte gegen die Müdigkeit. Der
Lärm verschwamm in seinen Ohren zu einem einzigen zähen, einlullenden Brei. Er bestellte gar nicht erst, als der Kellner an
seinen Tisch kam.
»Ich muss Dr. M. sehen.«
»Bedaure. Ich weiß nicht, von welchem Doktor Sie sprechen, mein Herr. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«
Er packte den Kerl am Kragen. Ein paar Gäste schauten sich um.
»Hör zu, mein Freund, wenn du das große Zittern bekommst, weil jemand nach dem großen Doktor gefragt hat, dann hol Sebald
her, damit der dir die Entscheidung abnimmt. Aber tu etwas. Glaube mir: Dr. M. will mich sehen! Und er will nicht , dass ich hier etwas trinke.«
»Sehr wohl der Herr.« Der Kellner blieb beinahe ungerührt und verschwand mit seinem Tablett. Rath schaute ihm nach und zündete
sich eine Zigarette an. Der Mann ging nicht zur Theke, er öffnete direkt neben der Tanzfläche, auf der sich nur wenige Paare
bewegten, eine unscheinbare Tür. Na also!
Wie kam es nur, dass er bei jeder neuen Information in diesem Fall den Eindruck hatte, noch weniger zu verstehen als zuvor?
Auf jede Erkenntnis folgte die Ernüchterung. Dass Josef Wilczek mit Bruno Wolter unter einer Decke steckte, diese Erkenntnis
hatte erst einmal mehr neue Fragen aufgeworfen als alte beantwortet.
Die Entdeckung vorhin in der Nürnberger Straße hatte Adrenalinstöße durch seinen Körper gejagt. Er hatte sich gefühlt wie
ein Chemiker, der ein neues Element entdeckt hat. Nur dass er es noch nicht einordnen konnte in ein sinnvolles System.
Er musste vor dem Bild gestanden haben wie in Trance. Starr der Blick, während die Gedanken durch den Kopf rasten.
Draußen auf der Nürnberger Straße hatte ein Auto gehupt, fast direkt vor dem Fenster, und dieses Geräusch erst hatte ihn wieder
zurück in die Gegenwart geholt. Ihn daran erinnert, warum er eigentlich hier war. Er hatte die Schublade geöffnet und ihren
Schlüsselbund herausgeholt. Dann die Schlüssel nacheinander ausprobiert und die Tür zu seinem alten Zimmer aufgeschlossen,
das ausgesehen hatte wie immer, nur dass das Bett nicht bezogen war. Mit einem Ruck hatte er das Telefonkabel aus der Wand
gerupft.
Als er die Schlüssel wieder zurücklegte, hatte er das Bild einfach von der Wand genommen.
Bevor er den Opel in der Burg ablieferte, war er zum Potsdamer Bahnhof gefahren. Ihm war nichts Besseres eingefallen, als
Bild und Telefon kurzerhand zu der Pistole und dem Notizbuch ins Schließfach zu packen. Dessen Inhalt glich immer mehr einem
Kuriositätenkabinett.
Ob überhaupt etwas davon jemals als Beweismittel vor Gericht taugen würde?
Er hatte den Wagen zurückgebracht, doch Gennats Büro hatte er gemieden. Erika Voss war schon in den Feierabend verschwunden,
als Rath die Akte Wilczek in seinem Büro noch einmal ausbreitete. Fast bekam er den Eindruck, er gehe seiner Sekretärin aus
dem Weg. Vielleicht war es ja auch so. Er blätterte in dem Ordner, den er selbst zusammengestellt hatte. Ihn interessierten
vor allem die älteren Fälle, die sie aus der Verbrecherkartei stichwortartig übertragen hatten, Wilczeks Vorstrafen. Rath
notierte die Daten und besorgte sich die alten Ermittlungsakten. Hatte Bruno Wolter irgendwann einmal dienstlich mit dem heiligen
Josef zu tun gehabt? Alle Mühe war umsonst. Nichts. Keine Festnahme, kein gar nichts. Nicht einmal eine vorzeitige Entlassung
aus dem Polizeigewahrsam fand sich, eine Spezialbehandlung wie bei Selenskij oder Fallin. Dabei war Rath sicher, dass Wilczek
als Spitzel für seinen alten Kriegskameraden Wolter gearbeitet hatte. Aber solche Dinge wurden natürlich nicht aktenkundig
gemacht.
Fallins Wohnung in der Yorckstraße lag ganz in der Nähe des Excelsior , und Rath hatte, bevor er sich in seinem Hotelzimmer für
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