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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Alter etwa Mitte dreißig, schlechte Zähne,
     Todesursache noch un…«
    »Schlechte Zähne?«
    »Die hat er definitiv, das ist keine Schätzung.«
    »Dann hatte er wohl Angst vorm Zahnarzt.«
    »Das glaube ich nicht. Bei einem Zahnarzt war er, wenn ich mir diese verschlimmbesserte Ruinenlandschaft in seinem Mund so
     anschaue. Aber bei einem schlechten. Sieht eher so aus, als hätte er sich keine anständige Zahnbehandlung leisten können.«
    »Fährt aber ein neues Auto und trägt einen feinen Abendanzug. Der ist ja fast schicker als Sie, Doktor!«
    »Vielleicht hat er sein Geld lieber für Autos und Garderobe ausgegeben als für den Zahnarzt. Sie wissen ja: Kleider machen
     Leute«, meinte Doktor Schwartz. »Und Autos erst! Feiner Wagen, so ein Horch! Kollege Karthaus fährt so einen. Nicht dass ich
     neidisch wäre – was soll man mit so einer Kiste, wenn sie nicht auf der Straße bleibt und im Kanal landet …«
    »Ich glaube, das hat weniger mit dem Wagen zu tun als mit derFahrtüchtigkeit des Fahrers.« Böhm zeigte auf die entstellten Hände des Toten. »Kann man an so was sterben, Doktor?«
    »Man kann an fast allem sterben, mein lieber Böhm.« Schwartz rückte seine Brille mit dem Zeigefinger zurecht und inspizierte
     den Brei aus Hautfetzen, Fleisch und Knochen genauer. »Sauerei«, sagte er schließlich. »Das muss ihm sehr wehgetan haben,
     aber höchstwahrscheinlich hat er es überlebt.«
    »Seltsam«, murmelte Böhm vor sich hin.
    »Mein lieber Böhm! Sie glauben gar nicht, was man alles überleben kann!«
    »Nein, ich meine sein Gesicht.« Böhm wirkte wie aus einem Traum gerissen. »Sieht so ein Mann aus, der kurz vor seinem Tod
     große Schmerzen erleiden musste?«
    Schwartz antwortete nicht und schaute den Toten an. Es stimmte. Die Leiche schien friedlich zu lächeln.

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    6
    S eit Viertel nach sechs waren sie unterwegs und holten die Leute aus den Betten. Alles wurde durchsucht, nicht nur die Wohnungen,
     auch Dachböden und Keller. Selbst in den Müllkästen stöberten die Beamten nach Waffen. Acht Bereitschaften waren allein im
     Unruhegebiet Neukölln eingesetzt. Und Beamte der Kriminalpolizei. Rath hätte nicht gedacht, so schnell wieder in die Hermannstraße
     zurückzukehren.
    Die Maiunruhen hielten auch am dritten Tag an. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen Kommunisten und Schupos, immer
     wieder fielen Schüsse. Auf den Straßen im Wedding und in Neukölln herrschte Krieg. Aus dem Baumaterial in der Hermannstraße
     waren Barrikaden errichtet worden, in einigen Straßenzügen sämtliche Straßenlaternen durch Steinwürfe außer Betrieb gesetzt.
     Jugendbanden nutzten die Dunkelheit und plünderten Geschäfte.Vergangene Nacht hatten Randalierer sogar Steine gegen das 220. Polizeirevier in der Selchower Straße geworfen: Das Revier,
     in dem sie am Sonntag noch die Aktion König gestartet hatten, war zur Zielscheibe des Mobs geworden. Sogar Schüsse sollen
     gefallen sein, erzählten sich die Kollegen. Erst der Einsatz einer Bereitschaft mit einem Panzerwagen und zwei Lastern konnte
     dem Spuk ein Ende bereiten.
    Solche Vorfälle schürten die Angst vor einem kommunistischen Umsturzversuch und heizten die Stimmung in der Polizei zusätzlich
     auf. Jeder Beamte, der auf die Straße ging, zumal in einer Arbeitergegend, war nervös und hatte die Waffe locker sitzen.
    Für Rath grenzte der allgemeine Gemütszustand seiner Kollegen an Hysterie. Als man dann auch ihn zusammen mit Wolter zum Einsatz
     nach Neukölln beorderte, hatte er sich bemüht, kühlen Kopf zu bewahren. Für die Durchkämmung der Unruhegebiete am Morgen des
     dritten Mai hatte Polizeipräsident Zörgiebel den Einsatz der Kriminalpolizei angeordnet. In aller Herrgottsfrühe hatten Bereitschaften
     der Schutzpolizei das Viertel beiderseits der Hermannstraße abgeriegelt, von der Boddinstraße bis zur Leykestraße. Ein riesiger
     Bezirk war zum Sperrgebiet geworden; Schupos bewachten die Zugangsstraßen, Schilder warnten, es werde scharf geschossen.
    Und dann hatten die Hausdurchsuchungen begonnen. Bereitschaftsbeamte sperrten die Hofeingänge ab, dann kämmten Trupps von
     Uniformierten den kompletten Block mit allen Hinterhäusern und Höfen durch, angeführt von je zwei Kriminalbeamten. Fast überall
     dieselben Reaktionen: fluchende Männer, schimpfende Frauen, schreiende Kinder – aber keine Waffen. Je weiter der Morgen voranschritt,
     desto mehr bekam Rath den Eindruck, die Leute wüssten Bescheid.

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