Der nasse Fisch
Geruch
ließ die Lebensgeister zurückkehren. Rath atmete genussvoll ein.
»Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör«, deklamierte er.
»Na, dann muss die Behnke aber ein sorgenreiches Leben haben«, stellte Weinert fest, als er den Kaffee in die zwei bereitgestellten
Tassen goss.
Rath zog es vor zu schweigen. Er nahm die heiße Tasse vorsichtig in beide Hände und pustete.
Weinert setzte sich zu ihm an den Tisch und faltete die Sonntagszeitung auseinander. Die Unruhen beherrschten auch heute die
Seite eins.
»Da haben euch die Sozis ja ganz schön in die Scheiße geritten, was?«, sagte er beiläufig, ohne von seiner Lektüre aufzublicken.
»Wie?«
»Na, der Einsatz gegen die Maidemonstranten. Findest du nicht, dass er ein wenig heftig ausgefallen ist? Über zwanzig Tote.
Jede Menge Verletzte. Und einige schweben noch in Lebensgefahr.« Er las vor: » Wir können uns auch heute des Eindrucks noch nicht erwehren, als ob die Maßnahmen des Sozialdemokraten Zörgiebel, vor allem
sein Demonstrationsverbot, in erster Linie parteipolitischen Motiven entstammten. «
»Hast du das geschrieben?«
»Drei Tage ging es in einigen Arbeitervierteln zu wie im Bürgerkrieg. Und das nur, weil euer Polizeipräsident den Kommunisten
zeigen wollte, wer im roten Berlin das Sagen hat. Ein kleiner Machtkampf zwischen staatstragenden und staatsfeindlichen Roten,
für den er den Polizeiapparat missbraucht hat. Und Tote in Kauf genommen!«
Rath befürchtete, dass der Journalist mit seiner Interpretation gar nicht so falsch lag. Doch er zuckte die Achseln. »Von
Politik verstehe ich nichts. Aber es ist nun mal Aufgabe der Polizei, die Ruhe auf den Straßen wiederherzustellen.«
»Erzähl mir nichts! Ich war beruflich auf den Straßen unterwegs in den letzten Tagen. Und die Ruhe habt ihr dort nicht wiederhergestellt,
im Gegenteil! Ihr habt das Ganze doch erst eskalieren lassen! Die Roten wären doch nach einer Stunde wiedernach Hause gegangen, wenn ihr sie in Ruhe hättet gewähren lassen!«
»Es gab Barrikaden! Und Plünderungen! Schießereien!«
»Es gibt immer Leute, die solche gesetzlosen Situationen ausnutzen, Schaufenster einwerfen, Geschäfte plündern und sonstwie
die Sau rauslassen. Aber ich habe keinen einzigen kommunistischen Heckenschützen gesehen. Nur schießende Polizisten …«
»… die jeden Moment damit rechneten, von der Rotfront aufs Korn genommen zu werden«, ergänzte Rath. »Der Rotfrontkämpferbund
ist bewaffnet.«
Nun zuckte Weinert die Achseln. »Natürlich sind die Kommunisten mit ihrem großmäuligen Gehabe nicht ganz unschuldig an der
allgemeinen Hysterie. Auch jetzt noch hauen die auf den Putz. Die schlachten jeden Toten für ihre Propaganda aus, obwohl so
gut wie keine Kommunisten darunter sind. Mittwoch sollen drei Maiopfer in Friedrichsfelde beigesetzt werden, an ihren Gräbern
will Ernst Thälmann persönlich reden. Die machen aus unschuldigen Opfern Märtyrer, tun so, als stünde die Revolution kurz
bevor. Alles absoluter Blödsinn, wenn du mich fragst. Und eurem lieben Zörgiebel arbeiten diese Idioten damit sogar noch in
die Hände: Wenn die Kommunisten Revolution machen wollten, dann war der harte Polizeieinsatz ja richtig. Aber der letzte Tote
war kein Kommunist, das war ein ahnungsloser Kollege, der für den Daily Express gearbeitet hat. Und der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dagegen haben die vielen Journalisten, die von Polizeiknüppeln
aus den Unruhegebieten herausgeprügelt wurden, ja geradezu Glück gehabt. Oder der Kollege von der Vossischen Zeitung , der mit einem Beinschuss davongekommen ist.«
Rath sagte nichts. Er musste an die beiden toten Frauen denken.
»Und das schlechte Gewissen eures Polizeipräsidenten siehst du hier.« Weinert zeigte ihm die Nachrichten auf Seite vier. Das
Bild des toten Boris hatten sie auch heute wieder veröffentlicht.
»Nach der ganzen Polizeigewalt gegen uns und der Verschleierungstaktik des Polizeipräsidenten in Sachen Maiunruhen war eskaum zu glauben, wie pressefreundlich die Polizei sich bei diesem Fall gegeben hat. Wie sehr man uns den ans Herz gelegt hat!
Kein Wunder: Dieser Tote kommt dem Präsidium gerade zur rechten Zeit.« Das Zeitungspapier raschelte, als Weinert mit der flachen
Hand auf das Porträtfoto schlug. »Diese Leiche ist perfekt! Ihr Tod hat mit den Unruhen nichts zu tun. Und seine Umstände
sind so schön mysteriös. Und gruselig. Zerquetschte
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