Der nasse Fisch
gestern. Aber der Onkel hatte Wort gehalten und sie heute um fünf nach Hause geschickt. Sie hatten viel geschafft,
doch um die Feiertagsschicht morgen würden sie nicht herumkommen. Aber nichts sprach dagegen, dass Rath auch morgen pünktlich
Feierabend machen konnte. Dann würde erausgehen. Erst ins Kino, dann etwas essen. Und vielleicht tanzen. Mit Charlotte.
Er dachte daran, wie er sie am Montag in der ganzen Burg gesucht hatte. Unauffällig natürlich. Er konnte ja nicht einfach
so in die Inspektion A marschieren. Sooft es ging, hatte er nachgeschaut, jede Gelegenheit genutzt, um mal kurz aus dem Büro
zu kommen. Bei Aschinger hatte er geschaut und in der Kantine, hatte sich immer wieder auf dem Gang vor der Glastür der Mordinspektion herumgedrückt.
Alles ohne Erfolg. Als er spätabends nach Hause gekommen war, hatte er sie den ganzen langen Tag nicht gesehen, geschweige
denn gesprochen. Der Einfall war ihm bei einem Blick auf das Telefon neben seinem Bett gekommen. Kriminalbeamte wie er mussten
erreichbar sein, sie besaßen alle einen Telefonanschluss. Sie war nur Stenotypistin, aber sie war ehrgeizig. Eine winzige
Chance bestand, auch wenn er nicht so recht daran glaubte. Nur wenige Leute besaßen einen Fernsprecher. Aber einen Versuch
war es wert. Er hatte im Telefonbuch geblättert und war auf einen Eintrag gestoßen. Ritter, C., Spenerstraße 32, NW Hansa 3919. Vielleicht hatte er Glück. Er ließ sich mit dem Anschluss verbinden und betete inständig, keinen Carl oder Christian an die
Strippe zu bekommen.
»Overbeck«, meldete sich eine Frauenstimme.
Verwählt? Er hätte beinahe wieder aufgelegt. Reflexartig. Doch dann fing er sich. »Guten Abend, Kommissar Rath hier. Entschuldigen
Sie die späte Störung, aber ist Fräulein Charlotte Ritter…«
»Wieso spät? Solange das Präsidium vor Mitternacht anruft, ist es noch nicht spät, so viel habe ich inzwischen gelernt. Warten
Sie einen Moment.«
Der Hörer wurde neben die Gabel gelegt.
»Charly«, hörte er die Frau rufen. »Charly! Telefon für dich. Das Präsidium!«
Er hörte Türenschlagen, Schritte, lautes Klackern, als der Hörer aufgenommen wurde.
»Böhm?«
Das war ihre Stimme. Beinahe hätte er vergessen zu antworten.
»Böhm, sind Sie das?«
»Nein. Rath hier.«
Pause.
»Oh!?«
Immerhin. Es war ihm geglückt, sie zu überraschen.
»Guten Abend, Herr Kommissar«, fuhr sie fort, »ich hoffe, Sie wollen mich nicht für einen Einsatz in der Inspektion E einspannen.«
»Nein, es geht um etwas Außerdienstliches.«
»Um die Gestaltung des Mittwochabends?«
Sie hatte ihre vage Verabredung also nicht vergessen.
»Nein«, sagte er, »um die Gestaltung des Donnerstagabends.«
Pause.
Das hatte er befürchtet. »Ich hab nur für Donnerstag Karten bekommen«, schob er schnell nach.
»Karten?«
Na also, er hatte sie neugierig gemacht.
»Phoebus-Palast.«
»Ein Kino? Und da gab’s nur Karten für den Feiertag?«
»Das Kino im Europahaus, gar nicht so einfach, da Karten zu bekommen. Außerdem umfasst das Arrangement ja noch mehr: Ich hab
im Europa-Pavillon einen Tisch reservieren lassen.«
Er wusste nicht, ob sie ihm die Lüge wirklich abnahm und ob sie Donnerstag überhaupt Zeit hatte. Aber als sie antwortete,
war ihm klar, dass sie die Einladung angenommen hatte. Dabei war es eigentlich gar keine Antwort. »Welcher Film läuft denn?«,
hatte sie gefragt.
Zur Adresse der Wolters war es vom Bahnhof aus nicht weit, nur ein kurzer Fußweg. Die Fregestraße, eine ruhige Straße, von
Bäumen gesäumt, die Hausfassaden strahlten solide Bürgerlichkeit aus. Rath fühlte sich an Klettenberg erinnert. Am Straßenrand
parkten einige Autos unter den Bäumen, Rath erkannte Brunos Ford, aber auch einen großen Horch und sogar einen Maybach.Er ging durch einen kleinen Vorgarten zum Haus, zog den Mantel zurecht, klingelte und schaute nach oben. Ein hübsches zweistöckiges
Häuschen, keine Villa, aber auch keine Hütte. Das einzige freistehende Haus hier, soweit er sehen konnte. Es dauerte einen
kurzen Moment, dann öffnete eine Frau die Tür. Rath kannte das Gesicht von dem kleinen Foto auf Brunos Schreibtisch.
»Guten Abend, Frau Wolter.« Er schüttelte ihre Hand und gab ihr den Blumenstrauß.
»Oh, vielen Dank! Sie sind Herr Rath, nicht wahr?« Er nickte. »Bruno hat schon viel von Ihnen erzählt.«
Er trat ein und schaute sich um. Die Wohnung war großzügig geschnitten. Eine Treppe führte nach oben.
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