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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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so, als hätte ich die Tür gehört?«
    Gute Vorlage. Danke! »Ich hatte wichtige Papiere vergessen.« Er schaute auf die Uhr. »So, nun muss ich aber!«
    Keine weitere Diskussion. Er setzte den Hut auf und lief die Treppen hinunter. Unten auf der Straße wartete Charly schon auf
     ihn. Sie hatte sich in einem Hauseingang versteckt. Die Frau dachte mit. Man merkte, dass sie in der Burg arbeitete.
    Ebenso unauffällig, wie sie aus der Wohnung geschlichen waren, betraten sie eine knappe Stunde später das Präsidium. In die
     U-Bahn waren sie nach einem kurzen Frühstück am Wittenbergplatz noch gemeinsam eingestiegen, hatten sogar eine Weile noch
     verliebt nebeneinander gesessen. Doch sobald sich die Bahn demAlex näherte, waren sie auseinander gerückt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kollegen zustiegen, wuchs mit jeder Station. Rath
     hatte Charly noch einen letzten Kuss gegeben und war schon am Spittelmarkt aufgestanden. Am Alex waren sie dann aus unterschiedlichen
     Türen aus der Bahn gestiegen. Und kurz darauf in einigem Abstand wie zwei Fremde durch den Bahnhof spaziert, vorbei an Bretterwänden
     und Absperrungen. Auch in sechs Metern Tiefe glich der Alexanderplatz einer Baustelle. Charly war zuerst in die Burg gegangen,
     er hatte sich noch ein paar Fahrpläne angeschaut, bevor er sich ebenfalls auf den Weg in die Dircksenstraße gemacht hatte.
    Das Büro war noch leer. Die Poststelle hatte ihnen einen Besuch abgestattet. Auf seinem Schreibtisch fand Rath ein Paket vor.
     Als er die fremden Aufkleber erkannte, wusste er sofort Bescheid. Es gab nur einen, von dem er Post aus Übersee bekam. Und
     der seine neue Dienstadresse kannte. Für einen Moment vergaß Rath sogar Charly, als er die Kordel aufschnitt und das Paket
     öffnete. Zeitungsseiten quollen heraus, englischsprachige Zeitungsseiten. Das Paket war gut gepolstert. Obenauf lag ein Brief,
     doch Raths Neugier galt erst einmal etwas anderem. Eine neue Platte! Er betrachtete das flache Pappquadrat und ließ die Innenhülle
     mit einer geübten Bewegung herausrutschen. Fletcher Henderson Orchestra , las er, Easy Money Blues. Frisch aus New York! Am liebsten hätte er sofort mal reingehört.
    Nur ein Mann schickte ihm solche Platten, ein Mann, den es in der Welt seines Vaters nicht mehr gab: Severin Rath, im Frühjahr
     1914 mit einem Postschiff nach Amerika gefahren und seither nicht mehr zurückgekehrt. Nicht, als im August der Krieg ausbrach
     und das Vaterland zu den Fahnen rief. Auch nicht, als der Krieg viereinhalb Jahre später vorbei war.
    Gereon konnte seinen Bruder verstehen. Damals schon und heute noch viel mehr. Engelbert Rath hatte seinen Sohn nicht verstanden.
     Die Schande eines Vaterlandsverräters in der eigenen Familie hatte ihn tief getroffen, die konnte auch der Heldentod seines
     Ältesten nicht aufwiegen. Im Gegenteil, es war, als gebe erSeverin die Schuld an Annos Tod. Jedenfalls ließ Engelbert Rath ohne mit der Wimper zu zucken auch einen zweiten Sohn sterben.
     Allein durch Schweigen. Über Severin wurde im Hause Rath nicht mehr gesprochen. Seine Briefe nicht beantwortet, ja nicht einmal
     gelesen. Bis irgendwann keine mehr kamen.
    Niemand, nicht einmal Ursula wusste, dass Gereon nach dem Krieg versucht hatte, seinen Bruder zu finden. Gar nicht so einfach,
     denn die alte New Yorker Adresse stimmte nicht mehr, und viele in der Stadt hatten ihre deutschen Namen in den Zeiten amerikanischer
     Kriegshysterie anglisiert, um der Gefahr einer Internierung auf Ellis Island zu entgehen. Nach einem umständlichen Briefwechsel
     mit US-Behörden, die nicht immer freundlich reagierten, hatte er 1921 schließlich einen Sevron Rath in Hoboken, New Jersey,
     ausgemacht. Und der hatte ihm tatsächlich zurückgeschrieben. Postlagernd. Wie vereinbart. Damals hatte die erste Jazz-Platte
     beigelegen. Der Anfang einer kleinen Sammlung.
    Rath holte die schwarze Scheibe aus ihrer Hülle und hielt sie wie kostbares Porzellan. Nachtblau, silberne Schrift. Come on, Baby! hieß der Titel auf der anderen Seite. Was ihn sofort wieder an sie erinnerte.
    Charly saß nur ein paar Räume weiter. Allein der Gedanke daran machte ihn wahnsinnig.
    Stephan Jänicke riss ihn aus seinen Träumen. Der Frischling stürmte voller Tatendrang durch die Tür, überrascht, schon einen
     Kollegen im Büro zu sehen.
    »Wolltest du gestern Abend nicht unterwegs sein?«, fragte er verwundert.
    »Geschlafen wird am Monatsende«, sagte Rath nur und packte das Paket wieder ein. Das

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