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Der Nautilus-Plan

Der Nautilus-Plan

Titel: Der Nautilus-Plan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Lynds
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weißes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt. Sein hervorstechendstes Merkmal waren immer noch seine dichten, buschigen Brauen, inzwischen silbergrau. Seine Augen darunter waren fast farblos, obwohl sie nach wie vor etwas Durchdringendes hatten. Seinen Rivalen hatte dieser Blick enormen Respekt eingeflößt, obwohl er einem Kind gegenüber auch voller Zuneigung und tiefem Verständnis für seine Nöte hatte sein können.
    »Es ist wichtig«, versicherte ihm Liz. »Aber es ist auch schön, wieder einmal bei dir zu sein.« Sie ergriff seine Hand und küsste ihn auf seine eingefallene Wange.
    Simon nahm die andere Hand. »Gut siehst du aus, Onkel Henry. Danke, dass wir hier einfach so aufkreuzen dürfen.«
    Henry strahlte. »Aber das ist doch selbstverständlich. Ihr seid mir jederzeit willkommen. Tee, Clive. Etwas Heißes, Angenehmes. Oolong, würde ich sagen.«
    »Ich denke mal, sie möchten Sandwiches, Sir«, bemerkte Clive mit finsterer Miene. »Die Köchin müsste wach sein. Der Lärm war unmöglich zu überhören. Sie wird die Kruste abschneiden.«
    »Sandwiches?«, sagte Simon. »Das wäre ausgezeichnet. Danke, Clive.«
    Liz sagte: »Darf ich dir einen Kuss geben? Um der alten Zeiten willen.«
    Clive runzelte zwar die Stirn, hielt ihr aber die rechte Wange hin. Liz beugte sich zu dem kleinen Mann hinab und drückte einen Kuss auf seine runzlige Haut. Über seine Züge huschte ein Lächeln, und schon war er weg.
    Henry, Lord Percy, ein direkter Abkömmling des vierten Lord Percy, des ersten Earl of Northumberland, der 1409 starb, war ein hochdekorierter Kriegsteilnehmer, ehemaliges Parlamentsmitglied, Diplomat und internationaler Geschäftsmann. Dessen Sohn Henry hatte sich schon im Alter von zwölf Jahren so in der Schlacht ausgezeichnet, dass er den Beinamen Hotspur erhielt und zwei Jahrhunderte später von Shakespeare in seinen Dramen Heinrich IV. und Richard II. unsterblich gemacht wurde. Besagter Hotspur zeugte kurz vor seinem Tod mit einem Mädchen aus Wark einen außerehelichen Sohn, dem er seinen Namen gab. Aus dieser Nebenlinie der Percys gingen erfolgreiche Kaufleute und Beamte hervor, die sich schließlich in London niederließen, und als der Großvater des gegenwärtigen Henry den alten Herrensitz südlich von Wark zurückkaufte, zog die Familie wieder in ihrem Stammsitz ein.
    »Setzt euch, setzt euch.« Henry zeigte auf eine lederbezogene Sitzbank.
    Liz und Simon ließen sich darauf nieder. Das Feuer knisterte, und auf dem Kaminsims tickte eine viktorianische Uhr. Der Raum war mindestens vier Meter hoch, die hölzernen Wandregale voll mit ledergebundenen Bänden. Es roch nach geöltem Leder und dem anheimelnden Feuer.
    Henry sah den Diener an der Tür an. »Seien Sie doch so gut, Richard, und lassen Sie uns allein.«
    »Clive hat aber gesagt …«
    »Das Sagen habe hier immer noch ich.« Henrys Stimme war trocken und leicht zittrig, aber sein Ton hatte die Endgültigkeit einer Guillotine.
    Liz und Simon tauschten Blicke aus. Henrys Verstand zeigte noch keine Verfallserscheinungen.
    Mit zusammengebissenen Zähnen neigte Richard den Kopf und verließ die Bibliothek.
    Liz wartete, bis sich die Tür schloss. »Henry, wir haben ein Problem …«, begann sie.
    Aber Henry gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. Sein Blick war hart und vorwurfsvoll, als er sagte: »Ich habe in der BBC einen Bericht über dich gesehen, Liz. Hast du Tish Childs umgebracht?«
    Liz blinzelte überrascht. »Natürlich nicht! Du weißt doch, so etwas könnte ich nie tun!«
    Henry reckte das Kinn. »Du warst bei der CIA. So etwas könntest du sehr wohl.«
    »Ich bitte dich, Onkel Henry. Du kennst mich doch. Tish wurde erst brutal gefoltert und dann ermordet. Wie kannst du auch nur eine Sekunde denken, ich könnte so etwas Schreckliches getan haben?«
    Sie sah ihn finster an, er blickte ebenso finster zurück.
    Das Ticken der Uhr schien lauter zu werden. Sie wandte den Blick nicht ab.
    Er schien etwas darin zu entdecken, was ihn umstimmte. Seine Schultern entspannten sich. »Zumindest fragen musste ich dich. Menschen ändern sich.« Er lächelte müde. »Immerhin kommst du mitten in der Nacht hier an und weckst meinen ganzen Haushalt. Dafür muss es einen wichtigen Grund geben. Ich dachte, vielleicht …«
    »Du hast dich getäuscht.«
    »Ja, das ist mir inzwischen klar. Führe es meinetwegen auf das zunehmende Wissen um die eigene Sterblichkeit zurück. Das unaufhaltsame Voranschreiten des Alters kann einen ängstlich machen.

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