Der Nautilus-Plan
Intention, die hinter der Gründung von Nautilus stand, und ich bezweifle auch, dass sie das heute ist. Deshalb solltet ihr euch unbedingt klar darüber werden, was es mit Nautilus auf sich hat, bevor ihr ihn so ohne weiteres als eine hoch exklusive, zur Geheimniskrämerei neigende Organisation mit zu viel Macht abtut. Die Anfänge von Nautilus reichen weit zurück … bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, auf einen polnischen Emigranten namens Josef Retinger. Er war Spion, aber auch noch wesentlich mehr.«
»Retinger?« Liz sah Simon an.
Der schüttelte den Kopf. »Mir sagt der Name auch nichts.«
»Das braucht euch nicht zu wundern. Er war einer dieser Gentleman-Agenten, die, von allen unbemerkt, auftauchten und wieder verschwanden. Ein ziemlich undurchsichtiger Charakter, der angeblich für jeden gearbeitet hatte, von den Freimaurern bis zum Vatikan, von der mexikanischen Regierung bis zur spanischen. Niemand wusste, wofür oder wogegen er war – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als er sich gegen die Nazis stellte. Damals wurde er von Whitehall rekrutiert und in ganz Europa für uns tätig. Er war übrigens verdammt gut und genoss solches Ansehen, dass er nur zum Telefon zu greifen brauchte, wenn er sich mit eurem damaligen Präsidenten Truman treffen wollte, Liz. Aber er hatte beim Sieg der Alliierten ja auch eine wichtige Rolle gespielt.«
»Hört sich sehr beeindruckend an«, sagte Liz. »Aber was hat das alles mit Nautilus zu tun?«
»Stellt euch folgende Situation vor«, setzte Henry an. »1948, drei Jahre nach Kriegsende, war Europa immer noch dabei, sich mühsam aus den Trümmern zu erheben. Hunderttausende trieben sich auf den Straßen herum, weil sie kein Dach über dem Kopf hatten. Und nicht nur, dass sie kein Zuhause hatten – sie hatten auch keine Heimat, kein Land. Keine Zukunft. Es war … ja, zum Herzerbarmen. Viele hungerten – Erwachsene wie Kinder. Auf dem europäischen Festland machten sich anti-amerikanische Tendenzen breit, und immer mehr Menschen traten der Kommunistischen Partei bei. Retinger fürchtete, in Europa könnte erneut ein Krieg ausbrechen, der noch verheerendere Folgen hätte, weil er mit Atomwaffen ausgetragen würde. Deshalb trat er an alle möglichen einflussreichen Persönlichkeiten heran, Wirtschaftsgrößen, ehemalige hohe Militärs und Politiker – die grauen Eminenzen der Nachkriegspolitik, wie die Presse sie bezeichnete –, und es gelang ihm, sie davon zu überzeugen, dass Europas Zukunft auf dem Spiel stand. 1952 kam zum ersten Mal eine Hand voll von ihnen um einen niedrigen Tischtennistisch in einer kleinen Pariser Wohnung zusammen.«
»Heimlich, nehme ich mal an«, sagte Simon. »Damit die Kommunisten nichts mitbekamen.«
»Mehr oder weniger, ja.«
Liz hatte Sir Henry die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Er hatte den Kopf hoch erhoben, und sein Blick war immer noch so durchdringend, wie sie ihn von früher in Erinnerung hatte. Obwohl seine Hände und seine Stimme vom Alter zitterten, war er von einer Entschlossenheit, die von Leidenschaft und Wissen und von einer Vision zeugte. Sie hatte, wenn auch nur sehr allgemein, viel von Henry Percys Errungenschaften gehört – Berater englischer Premierminister und ausländischer Regierungschefs; Kontinente überspannende Investitionen, aufgrund deren er sowohl über die Bedürfnisse der Menschen als auch über ihr Streben nach den materiellen Dingen des Lebens bestens im Bilde war. Und das alles, ohne seine angeborene Bescheidenheit abzulegen. Aber zugleich dürfte er auch sehr genau gewusst haben, wie man im Hintergrund die Fäden zog, wie das auch Averell Harriman oder David Rockefeller glänzend verstanden hatten, zwei Männer, die die politische Entwicklung des modernen Amerikas – und auch Europas – zum großen Teil geprägt hatten.
Plötzlich wurde ihr etwas klar, was sie schon die ganze Zeit gespürt hatte … warum er mit solcher Autorität sprach. »Du warst dabei, Henry. Stimmt’s? Du warst einer der Männer, die an diesem Treffen in Paris um diesen ›niedrigen Tischtennistisch‹ teilgenommen haben.«
Simon blickte rasch auf und sah erst Liz, dann Henry an.
Henry nickte nur. Seine Miene war ernst. »Wenige erinnern sich noch, wie dicht Europa davor stand, ein weiterer totalitärer Satellitenstaat der Sowjetunion zu werden. Es war eine extrem brisante Zeit. Aber auch spannend. Wir wussten, wir standen an einem historischen Scheideweg, und weil wir die Gefahr so deutlich sahen, war
Weitere Kostenlose Bücher