Der Nautilus-Plan
Essigflaschen. Wer Essig bei sich hatte, rechnete mit Ärger. Um die Wirkung von Tränengas abzuschwächen, würden sie ihre Halstücher mit Essig tränken.
Die lauter werdenden Stimmen erfüllten die schwüle Abendluft, als die Demonstranten sich wieder um die Botschaft zusammenzogen. Sie hielten Transparente in allen möglichen Sprachen, hauptsächlich jedoch auf Slowakisch, Deutsch und Englisch:
GLOBALISIERUNG = HUNGER
RETTET UNSERE WÄLDER UND FLÜSSE
HELFT ANDEREN NATIONEN. ZERSTÖRT SIE NICHT.
Es waren Sozialisten, Anarchisten und die üblichen Nationalisten alten Schlags dabei, und alle protestierten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, gegen die Globalisierung und ihre Folgen. Die Sozialisten wollten möglichst viel staatliche Kontrolle. Die Anarchisten wollten gar keine Kontrolle. Und die Nationalisten wollten die strenge Beibehaltung der bestehenden Grenzen. Nur ein Phänomen wie die Globalisierung, die jede dieser Gruppierungen als Affront gegen ihre politischen Überzeugungen betrachtete, konnte so unterschiedliche Lager einen. Natürlich waren auch Umweltschützer und Gewerkschaftler da. Aber ihnen ging es weniger um parteiliche Belange als um die Sache an sich.
Aus seinem Versteck entdeckte Blase unter den Demonstranten Tomasz und seine Frau Maria. Beide waren schon über fünfzig und machten sich Sorgen wegen der Kürzung der Sozialleistungen für Kinder und alte Menschen, wie sie sie noch aus der kommunistischen Ära kannten. Tomasz reckte ein Schild mit der Aufschrift MENSCHEN STATT PROFIT in die Höhe. Nicht weit von ihm stand Lukas, Anfang dreißig und arbeitslos, seit die Fabrik, in der er beschäftigt gewesen war, im Zuge der allgemeinen Globalisierungstendenzen privatisiert und verkauft worden war. Ein Jahr später hatte die Firma bankrott gemacht. Seitdem hatte er keine feste Anstellung mehr gefunden.
Egal, wohin er schaute, sah Blase Hausfrauen, Künstler, Schriftsteller, Lehrer, Bauern – Menschen, die er auf Veranstaltungen und Demonstrationen von Globalisierungsgegnern kennen gelernt hatte. Viele vertraten hohe ethische Maßstäbe und glaubten fest an demokratische Ideale und eine bessere Welt. Sie kämpften für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz.
Das alles war völlig normal, nicht weiter besorgniserregend. Was Blase allerdings Sorgen machte, waren die von auswärts Angereisten, mindestens fünftausend, von denen immer noch mehr eintrafen. Für Bratislava war das eine beunruhigend hohe Zahl, da die meisten die slowakische Hauptstadt noch nicht auf ihrer Landkarte hatten – weder als Vergnügungsmetropole noch als Schauplatz ernster Auseinandersetzungen.
Den Personen, die er kannte, und den Gesprächen, die er mitbekam, nach zu urteilen, kam dieser Teil der Demonstranten hauptsächlich aus dem goldenen Dreieck Mitteleuropas – Wien, Budapest und Prag – und war in den üblichen aus fünf bis fünfzehn Personen bestehenden »Affinitätsgruppen« organisiert. Ein Teil von ihnen hatte die Aufgabe, schon vor der eigentlichen Demonstration aktiv zu werden, indem sie zum Beispiel in Erfahrung brachten, wo Festgenommene inhaftiert würden. Andere bekamen während der Demonstration selbst bestimmte Aufgaben zugewiesen – wie zum Beispiel Wasser zu verteilen und für Beweiszwecke Fotos zu machen. Der Rest schließlich musste sich nach der Demonstration um die Kinder, Katzen, Hunde und Zimmerpflanzen derer kümmern, die verletzt oder verhaftet worden waren.
Um besser hören zu können, legte er den Kopf auf die Seite. Ein Quartett von Jugendlichen diskutierte über eine große »Aktion«, die für den Abend geplant war. Der einzige Anhaltspunkt war, dass die Gruppe ein Auffrischungsseminar über Gewaltlosigkeit und slowakische Bürgerrechte absolviert hatte, was gängige Praxis war, wenn die Möglichkeit bestand, dass eine Veranstaltung ausartete.
Während Blase diese neuen Informationen besorgt zur Kenntnis nahm, entdeckte er Viera Jozef. Ihr seidiges schwarzes Haar schwebte wie eine Wolke um ihre Schultern. In einer Hand hielt sie einen mit einem Deckel verschlossenen Eimer, in der anderen eine Sporttasche. In dem leichten Sommerkleid, das ihr gerade bis zu den Knien reichte, bot sie einen rundum erfreulichen Anblick, als sie sich, den Blick auf die nüchterne Botschaft vor ihr gerichtet, durch die mondbeschienene Menge schlängelte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck unbedingter Entschlossenheit. Sie war eine erbitterte Globalisierungsgegnerin. Blase hatte ein
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