Der Nautilus-Plan
und in ein mit Menschen voll gestopftes Polizeifahrzeug gezwängt. Voller Schuldgefühle ergab er sich stumm seiner Trauer, als das Fahrzeug in die Nacht davonfuhr.
FÜNF
Das Polizeipräsidium von Bratislava hatte immer noch die streng funktionale Einrichtung und finstere Ausstrahlung seiner kommunistischen Vergangenheit. Grau und grell beleuchtet, stank es um elf Uhr abends von den Massen festgenommener Demonstranten nach Schweiß und Wut. Nachdem seine Personalien aufgenommen worden waren, wurde Blase in eine Arrestzelle voller aufgebrachter Männer geschoben. Viele hatten an Kopf, Armen und Beinen leichte Verbrennungen und Verletzungen, die noch nicht behandelt worden waren. Die von der Polizei hinzugezogenen Ärzte nahmen sich zuerst der schlimmsten Fälle an.
In der Zelle herrschte erstickende Hitze. Keine Klimaanlage kühlte die schwüle Abendluft oder die erhitzten Gemüter. Einige saßen auf harten Bänken, aber die meisten standen eng aneinander gedrängt und diskutierten, von den Unruhen immer noch aufgeheizt, über Viera Jozefs Tod. Einige erregten sich über ihre Dummheit, während andere voller Bewunderung für ihre heroische Tat und ihr persönliches Opfer waren. Alle waren sich jedoch darin einig, dass ihr Tod ihren Kampf gegen die Globalisierung vom Makel dumpfer Krawallmacherei befreit hatte, der ihm von staatlichen Organen und Medien angehängt werden sollte. Zumindest vorerst war die Bewegung dadurch geadelt worden.
Ohne sich um die eigenartigen Blicke wegen seines ramponierten Smokings zu kümmern, hielt Blase, von Trauer und Schuldgefühlen geplagt, in dem Gedränge nach Vieras Bruder Johann Jozef Ausschau. Das Gesicht in den Händen vergraben, saß er weit vornübergebeugt auf einer Bank.
Die Bank war zwar dicht besetzt, aber als Blase wütend auf Johann zusteuerte, rutschte der ältere Mann, der neben Johann saß, nach einem Blick in Blases finsteres Gesicht zur Seite.
Blase ließ sich neben Johann auf die Bank sinken. »Wie konntest du das zulassen?«, hielt er ihm auf Slowakisch vor. »Was hast du dir dabei gedacht, Johann!«
Johann fuhr hoch. Er war Ende zwanzig, stämmig, knapp eins achtzig groß. Aus seiner Haltung und seinem Gesichtsausdruck sprachen tiefe Bestürzung und Trauer.
»Ich hatte doch keine Ahnung, was sie vorhatte!«, stieß er verzweifelt hervor, die Lippen zu einer Grimasse des Schmerzes verzogen. »Wir wurden getrennt. Ich schrie noch, sie sollte es nicht tun, aber ich war zu weit weg. Unfassbar.«
»Du bist ihr Bruder«, sagte Blase aufgebracht. »Du hättest es wissen müssen ! Ihr habt die Demo gemeinsam organisiert. Sie muss etwas gesagt haben. Es war doch deutlich zu erkennen, dass sie geprobt hatte, wie sie es durchziehen wollte.«
»Warum hast du es denn nicht gewusst?«, schoss Johann zurück. »Sie hat mir erzählt, sie wäre gestern Nacht bei dir gewesen. Erst wart ihr im Korzo essen, und hinterher seid ihr zu dir gegangen, in deine Wohnung. Ihr habt den heutigen Abend gefeiert, hat sie mir gesagt. Du bist derjenige, dem sie es gesagt hätte!«
Blase sah Viera vor sich, wie sie das letzte Mal zusammengewesen waren, so lebendig und voller Zuversicht. Er spürte ihre schlanken Arme um seinen Hals, roch den natürlichen Duft ihrer Haut. Er konnte noch einmal ganz deutlich ihre Stimme hören, wie sie leidenschaftlich ein paar neue Globalisierungsnachteile aufzählte – noch mehr verlorene Arbeitsplätze, noch mehr hungernde Kinder, noch mehr Bodenschätze, die von korrupten Regierungen verhökert wurden, damit unersättliche Konzerne noch mehr Profit machen konnten.
Sie hatte ihn gemocht, und er hatte sie gemocht, und der Sex war gigantisch gewesen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sich ihre Beziehung darauf beschränkt hatte – Freundschaft, Zuneigung, fantastischer Sex. Der nonchalante Zynismus der Beziehung trivialisierte die Elemente, die gut gewesen waren.
»Sie hat unsere Verabredung abgesagt«, sagte er steif. »Ich habe sie weder gestern noch heute gesehen.«
Wieder packten ihn Schuldgefühle. Er wandte sich von Johann ab. Er wollte ihm nicht mehr länger Vorwürfe machen. Viera war ihm die ganze Woche aus dem Weg gegangen, wahrscheinlich – wurde ihm jetzt bewusst –, um ihr Vorhaben vor ihm zu verbergen. Er war so mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, dass er es nicht gemerkt hatte. Ein verhängnisvoller Fehler.
Johann sah auf Blases Kleidung. »Du bist ja im Smoking! Genau wie diese Ausbeuter. Deshalb hast du dich also
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