Der Nautilus-Plan
Stadt lag eine schwüle Wärme, als der Morgen näher rückte. Simon stand unter Zeitdruck. Von der Donau ging er rasch zu seiner Wohnung in der Altstadt, wo er den Smoking ablegte und eine Jeans und ein weites Hemd anzog. Dann holte er seine 9mm Beretta aus dem Safe unter dem Bett und lud sie durch. Er konnte es kaum erwarten, die Person zu treffen, die behauptete, Informationen über den Tod seines Vaters zu haben, aber er war auch auf der Hut. Er steckte die Waffe in das Holster unter seinem Hemd und schob eine kleine Taschenlampe in die Tasche seiner Jeans.
Doch als er gehen wollte, fiel sein Blick in den Spiegel über der Kommode. Einen Augenblick lang erkannte er sich selbst nicht mehr. Blase Kusterle? Simon Childs? Normalerweise blieb er in seiner jeweiligen Rolle und erstattete dem MI6 selten persönlich Meldung. Für sein psychisches Gleichgewicht war es besser, nur eine Person zu sein. Aber in dieser Nacht war alles auf den Kopf gestellt worden, und er war auf einmal ohne Vorankündigung wieder Simon Childs gewesen.
Er kehrte zur Kommode zurück und starrte in den Spiegel. Ada hatte ihn als gut aussehend und selbstsicher bezeichnet, genau das Gegenteil von dem, wie er sich selbst sah. Er war knapp eins neunzig groß und hatte gewelltes braunes Haar, das er im Stil Blase Kusterles, des Globalisierungsgegners, relativ lang trug. Er hätte sich dringend rasieren müssen. Seine Nase war groß und krumm. Der Grund dafür kam in einer Explosion aus Schmerz zurück, und er spürte, wie er davon kurz ins Wanken geriet. Aber er verdrängte die Erinnerung rasch wieder. Seine hellblauen Augen wirkten müde, und etwas an ihnen gefiel ihm nicht. Er war nicht sicher, wem er das zu verdanken hatte – Blase oder Simon.
Verärgert, dass er sich so gehen ließ, schüttelte er den Kopf. Als er die Wohnung verließ, fiel ihm ein, dass er für den MI6 einen Bericht schreiben musste. Doch das hatte Zeit.
Es war etwa eine Stunde vor Tagesanbruch, als er die Kapitulskâ-Straße zum St.-Martins-Dom hinunterlief. Der mächtige gotische Bau, imposant und unheimlich, befand sich nur wenige Meter von der in der kommunistischen Zeit gebauten Staromestka-Hochstraße entfernt, einer Monstrosität, auf der sogar um diese Zeit dichter Verkehr herrschte. Die Umgebung des Doms schien verlassen, als er sich ihm näherte. Trotzdem zog er seine Beretta.
In höchster Alarmbereitschaft, in einer Hand die Pistole, in der anderen die Taschenlampe, sah er sich kurz um, inspizierte Durchfahrten, Mauern, andere Bauten und den angrenzenden Rudnay-Platz. Der Dom, ein slowakisches Nationalheiligtum, war vor fünfhundert Jahren die Krönungskirche der ungarischen Könige gewesen und spielte im religiösen Leben des Landes weiterhin eine wichtige Rolle. Nachts war er abgeschlossen. Es war niemand zu sehen, und auch sonst bemerkte Simon nichts Verdächtiges.
Wie er auf dem Zettel aufgefordert worden war, ging er auf den Nordeingang des Doms zu. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Er drückte sie weiter auf. Sofort drang ihm der modrige Geruch von feuchtem Stein entgegen. Auf den Simsen des Steingangs, der sich dahinter auftat, brannten Kerzen, obwohl es auch elektrisches Licht gab. Er lauschte. Schließlich trat er mit klopfendem Herzen ein. In der Kirche war es fast zehn Grad kühler. Er ließ die Tür ein wenig offen, so, wie er sie vorgefunden hatte.
Die Kerzen standen in einigem Abstand voneinander und machten den Gang gerade so hell, dass er sich darin orientieren konnte. Die Pistole mit gestrecktem Arm hin und her schwenkend, tastete er sich voran. Der riesige Kirchenbau bestand aus einem Hauptschiff und zwei Seitenschiffen, einem dem Klerus vorbehaltenen Presbyterium, drei gotischen Kapellen, einem großen gotischen Narthex und der dem hl. Johannes geweihten Barockkapelle. Er ging auf das Ende des Gangs zu und lauschte in die tiefe Stille hinein, die aus den grauen Steinmauern zu sickern schien.
Schließlich betrat er, wie angewiesen, die erste Kapelle. Er blieb in ihrem hinteren Ende stehen und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sobald er sich nicht mehr bewegte, stand die Luft vollkommen still. Nichts bewegte sich, weder die Kerzenflammen noch die Schatten, die sie warfen. Die Kapelle schien leer. Sein Blick glitt über die Kerzen, die Kirchenbänke, die altmodischen Wandbehänge, die tiefen Schatten. War die Person, die den Zettel geschrieben hatte, überhaupt hier? Würde sie überhaupt zu dem Treffen erscheinen? Und noch
Weitere Kostenlose Bücher