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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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blieb dort bis Januar 1948.
    Am 22. Januar 1948 holte mich meine Frau nach Hause. Ich mußte bis zum 14. Mai im Bett bleiben. Erst am 14. Mai gelang mir der zweite Freudensprung. Ich sprang mit einem einzigen Satz aus dem Bett!
    Am 14. Mai 1948 ... oder, um genauer zu sein: am 5. Ijjar 5708 jüdischer Zeitrechnung, zogen die letzten englischen Truppen ab, und der Judenstaat wurde offiziell proklamiert: der Staat Israel!
    Als ich frühmorgens mit einem einzigen Satz aus dem Bett sprang, war es noch nicht ganz so weit. Aber ich wußte: heute! Das ist der große Tag! Die Sonne war bereits aufgegangen, und keiner konnte uns diesen Tag wegnehmen! Diesmal war meine Freude nicht verfrüht.
    Schmuel Schmulevitch hatte seinen Salon schon um 3 Uhr nachmittags geschlossen, um zu Hause rechtzeitigRadio zu hören. Mira und ich holten ihn aus dem Geschäft ab, da wir zum Essen eingeladen waren.
    Ich stand noch ziemlich schwach auf den Beinen ... so wie unser junger Staat... ließ mir aber nichts anmerken. Wir schlenderten gemächlich die Dritte-Tempel-Straße entlang. Die Menge auf der Straße war erregt, hatte aber noch nicht zu feiern angefangen, da alles noch auf die große ›historische Proklamation‹ wartete, die die Lautsprecher auf den Straßen in Bälde durchgeben würden.
    »Heute ist Sabbat Abend«, sagte Schmuel Schmulevitch, als wir in die Jabotinskystraße einbogen ... »am Sabbat gibt's immer gefüllte Fische bei uns und Nudelsuppe und Suppenfleisch und Zimmes und Kompott und Kigel oder Kugelspeise, wie meine Frau das nennt. Das habe ich durchgesetzt.«
    Mira nickte. Und ich sagte an ihrer Stelle: »Ja. Das ißt Mira gern.«
    »Ich auch«, sagte Schmuel Schmulevitch. »Aber nicht meine Frau.«
    »So ...«, sagte ich.
    »Heute wollte sie nicht«, sagte Schmuel Schmulevitch ... »wollte nicht kochen, was ich gern habe. Hat Sauerbraten und Kartoffelklöße gekocht. War nichts zu machen.«
    »Eigentlich nicht angebracht«, sagte ich ... »ausgerechnet heute, wo der Judenstaat proklamiert wird.«
    »Weil wir uns gestern gezankt hatten«, sagte Schmuel Schmulevitch. »Eine kleine Rache von meiner Frau.«
    »Das mit dem Sauerbraten und den Klößen?«
    »Ja«, sagte Schmuel Schmulevitch.
    Ich fragte: »Werden wir die am Abend essen? Nach dem Anzünden der Sabbatkerzen?«
    »Nein«, sagte Schmuel Schmulevitch. »Meine Frau hat nämlich heute ihr Mittagessen verpaßt. Und deshalb werden wir heute früher zu Abend essen."
    »Noch vor dem Anzünden der Sabbatkerzen?« »Noch am Nachmittag«, sagte Schmuel Schmule-
    vitch.
    Der Schmuel Schmulevitch tat mir aufrichtig leid.
    Ein Glück, daß ich, der Massenmörder Max Schulz,
    nicht mit so einer Frau verheiratet bin.
    Frau Schmulevitch hatte sich sichtlich Mühe gegeben: der Sauerbraten war erstklassig, ebenso die Klöße. Wir aßen mit gesundem Appetit, obwohl es noch nicht Abend war.
    Als die Stimme im Radio die ersten Worte der Unab hängigkeitserklärung zu verlesen begann, hob Mira beunruhigt den massigen Kopf. Ich konnte sehen: ein dicker deutscher Kloß steckte in ihrem Mund. Und sie konnte ihn weder hinunterschlucken noch ausspucken.
    Wir blickten Mira an. Das Radio dröhnte. Die ganze Welt hörte mit uns zu. Ein großer historischer Moment.
    Ich beugte mich plötzlich vor und zog Mira den deutschen Kloß aus dem Mund ... legte ihn zurück auf ihren Teller. Mira sah mich an, mit ihren seltsam starren Augen.
    Die Stimme im Radio ließ sich nicht stören. Mira fing plötzlich zu weinen an. Ich habe Mira noch nie weinen sehen. Wir anderen saßen wie erstarrt, angenagelt an unsere Plätze. Und Mira weinte. Und die Stimme im Radio sprach zu uns, sagte uns, daß jetzt alles vorbei war. Ahasver hatte den Wanderstab niedergelegt. Ahasver durfte sich endlich ausruhen. Und Mira weinte. Und ich sah: das Starre in ihren Augen wurde flüssig, zerschmolz, rann aus den Augen heraus, floß aus dem Seelenspiegel, über Wangen und Kinn, tropfte auf den zerfallenen Kloß ... der auf ihrem Teller lag.
    Mira weinte erst lautlos. Aber Mira wollte laut weinen. Ihr Mund war sperrweit offen. Aber keine Lautekamen aus diesem Mund. Gewiß, dachte ich, steckten dort viele Klöße drin! Und die will sie ausspucken.
    Ich dachte: die unsichtbaren Klöße. Das sind die richtigen Klöße. Und während ich Mira anstarrte, hoffte ich, daß Mira sie ausspuckte.
    Mira zitterte am ganzen Körper. Ihr fettes Gesicht glänzte vor Schweiß. Ich wollte mich vorbeugen, um Mira zu umarmen, aber Schmuel

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