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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Rappen, viele aber auch auf richtigen Pferden, berittene und unberittene Polizei, wie man so sagt. Die Leute munkelten: Paßt auf, wenn er kommt, schlagen die Kommunisten los. Andere sagten: Das werden die nicht wagen! - In den Straßen wimmelte es nur so von  Leuten mit Hakenkreuzbinden - dieschwenkten auch lustig den Arm, während die anderen, die keine Binde trugen, den Arm still hielten, sozusagen nicht schwenkten, als wollten sie ihn einklemmen so wie ein Pudel den Schwanz, wenn er begossen wird.
    Aus der Umgebung kamen die Bauern zur Stadt - aber auch andere - betranken sich in den Wirtshäusern, bändelten mit den Dienst- und Kindermädchen an, die noch auf der Straße waren, um die Vorfreude zu genießen oder die warme Maisonne - ehe es zum Ölberg
    ging.
    Ich arbeitete an jenem ereignisreichen Tag nur vor mittags im Friseursalon ›Der Herr von Welt‹, verab schiedete mich jedoch um 12 Uhr - oder, um genauer zu sein: fünf Minuten vor zwölf - von Chaim und Itzig Finkelstein, sagte, ich müßte den Tag oder den Nach mittag frei haben, weil ich ›Ihn‹ sehen wollte.
    »Wen sehen?« fragte Chaim Finkelstein hustend - »den Sohn der Vorsehung - den Auferstandenen?«
    »Husten Sie nicht«, sagte ich zu Chaim Finkelstein, »denn das Husten wird Ihnen vergehen!« Und ich wußte nicht, warum ich das sagte ...
    Ich eilte nach Hause, zog mir den besten Anzug an - denn ich hatte keine Uniform ... war ja nicht mal Parteimitglied - band mir eine Hakenkreuzbinde um den Arm, schlang mein Mittagessen herunter, sagte höhnisch zu Slavitzki ... er sollte sich auch eine umbinden, aber nicht mit Gummiband, auch nicht mit Steck- oder Sicherheitsnadeln, sondern angenäht. Slavitzki sagte, ich würde jetzt immer frecher, sagte, er hätte den schwarzen Rohrstock noch nicht eingemottet, versicherte mir aber, daß er sich eine umbinden würde - und was für eine! - denn er wäre ein Deutscher - und was für einer! Das sagte Slavitzki.
    Um 14 Uhr - oder, um genauer zu sein: um dreizehn Uhr fünfundfünfzig - traten wir drei aus der Kellerwohnung, freuten uns, weil die Sonne schien, glaubten, der ›Herr Hitler‹ hätte sie bestellt - denn der konnte das
    - das sagte Slavitzki - trugen alle drei Hakenkreuzbin-
    den, ja auch Mutter. Mutters Hakenkreuzbinde war am
auffälligsten, sah aus, als würde sie jeden Moment plat- zen, wegen des überfetten Oberarms.
    Die ganze Stadt schien zum Ölberg zu pilgern - und die aus der Umgebung. - Sie hätten Wieshalle sehen sol len - an jenem Nachmittag. Mir gefielen besonders die blumengeschmückten Fenster. Da konnte man alle möglichen Farben sehen. Die Juden in der Schiller- und Goethestraße hatten Trauerblumen in ihre Fenster gestellt, ebenso die Pazifisten, bei den Kommunisten sah ich Haßblumen, bei Anhängern schwächerer Parteien, ebenso wie bei den Unparteiischen farblose Blumen, die stumm und müde nickten, während die anderen verzweifelt zu schreien schienen oder zu weinen. Die Blumen der Nationalsozialisten aber jubelten uns zu; sie waren sorgfältig ausgewählt und zusammengestellt und trugen ausschließlich die Farben der Freude.
    Ich verlor Slavitzki und meine Mutter im Gedränge, suchte dann meinen Tierschutzverein, konnte ihn nicht finden, fand aber oder traf zufällig meinen früheren Deutschlehrer Siegfried von Salzstange, der jetzt Rektor war, freute mich, gratulierte ihm, schüttelte ihm die ehemalige Lehrerhand, die jetzt eine Rektorhand war, drängte mich mit ihm zusammen vorwärts - zum Allerheiligsten - und Siegfried von Salzstange wußte, wie man sich vordrängte, zeigte es mir, machte mich drauf aufmerksam, daß man mit den Ellbogen stoßen müsse, wenn das nötig sei, manchmal aber auch nicht. Es gelang uns schließlich, einen guten Stehplatz zu kriegen
    - nicht weit entfernt vom Altar. Als ich mich umblick-
te, erschrak ich, denn hinter uns standen Millionen.
    »Ich dachte - hier wären nur die Leute aus Wieshalle und Umgebung«, sagte ich zu Herrn Siegfried von Salzstange. »Aber es sind mehr. Viel mehr! Ich sehe Millio nen!«
    »Hier ist fast ganz Deutschland versammelt«, sagte Herr von Salzstange.
    »Was heißt: fast ganz Deutschland?«
    »Nur die Unzufriedenen«, sagte Siegfried von Salzstange.
    »Hier sind die Unzufriedenen ganz Deutschlands versammelt!«
    »Die Kommunisten?« fragte ich.
    Mein früherer Deutschlehrer schüttelte den Kopf. »Die anderen«, sagte er - »die anderen Unzufriedenen. Denn es gibt eine andere Unzufriedenheit, und die kann der

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