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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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unten wie ein Ameisenberg aussehen. Denn der Berg war in steter Bewegung. Aber wirwaren ja keine Ameisen? Und wir wollten den Berg auch nicht wegschleppen. Oder wollten wir das? Standen wir etwa gar nicht auf dem Abhang des Ölbergs? Trugen wir etwa den Ölberg auf unseren Schultern? Oder trugen ihn andere Schultern, die zugleich auch uns trugen? - Der Berg schien zu schaukeln, wogte im Wind unter dem strahlend blauen Maihimmel und der heiteren Sonne, streckte sich zuweilen und zog sich wieder zusammen, fing zu zittern an, als der ›Führer‹ ankam, spitzte seine Ohren wie ein Tier, wollte tänzeln, wollte scheuen, konnte aber nicht, merkte, daß es getra gen wurde, beruhigte sich - beruhigte sich ganz plötzlich.
    Lieben Sie die Vögel? Fühlen Sie sich manchmal ver sucht, den Flug der Vögel zu beobachten? Besonders der Singvögel? Wissen Sie, wie das aussieht, wenn ein Vogel vom Himmel auf die Erde herabstößt? Oder viele Vögel? Ein ganzer Schwarm? Freuen Sie sich auch, wenn die Vöglein singen? Besonders im Monat Mai? - Und wissen Sie, wie das ist, wenn Vogelstimmen plötz lich und ganz unerwartet verstummen?
    Als der Führer hinter den Altar trat, wagte die Menschenmenge nicht mehr zu atmen ... und doch mußten wir alle atmen, denn sonst wären wir ja alle erstickt. Aber wir schlossen den Mund und atmeten nur durch die Nase.
    Ich erschrak gewaltig, als ich den Führer zum ersten Mal sah, denn ich dachte, es wäre Slavitzki, aber dann sagte ich zu mir: nein! das kann nicht Slavitzki sein, denn Slavitzki ist ein Fleischfresser und hat ein langes Glied, dieser aber hat ein kurzes und ist ein Vegetarier. Und Slavitzki hat Säuferaugen und einen leblosen Blick, dieser aber hat die Augen eines Propheten. Ich bemerk te einen letzten Vogelschwarm, sie kamen von nirgendwoher, waren plötzlich da, setzten sich zu beiden Seiten des Führers auf den Altar, sahen wie Totenvögel aus, piepsten nicht, zwitscherten nicht, sangen nicht, saßen stumm auf Eichenholz und Fahnentuch, bildeten seltsame Abstände: einer, dann: neun, dann: drei - dann wie der drei. 1933, fuhr es mir durch den Sinn. Was soll das bedeuten? Ich stieß Siegfried von Salzstange an und fragte ihn flüsternd: - »Was soll das bedeuten?« obwohl ich doch gar nicht flüstern durfte. - »Der kommt 1933 an die Macht«, flüsterte Siegfried von Salzstange zurück. »Das ist doch klar wie der Rhein.«
    »Woher wissen Sie, ob der Rhein klar ist?« fragte ich.
    »Halten Sie jetzt das Maul«, sagte Siegfried von Salz stange. »Sehen Sie denn nicht, daß ›Er‹ jetzt die Augen zum Himmel hebt. Er will den Himmel beschwören. Und gleich fängt es an.«
    »Was fängt an?« fragte ich.
    »Die Rede, Sie Idiot!« sagte Siegfried von Salzstange.
    Adolf Hitler sprach zuerst über den Werdegang der Bewegung, erzählte vom Marsch zur Feldherrnhalle, vom Blut der gefallenen Kameraden, von den Toten, die nicht tot seien, weil sie in uns weiterlebten, erklärte uns, warum man Kanonen bauen müsse und daß er welche bauen werde - und was für welche! - denn das habe er bei seinem Vater geschworen, dem Herrn der Vorsehung, machte uns klar, daß gewöhnliche Kanonen nur schössen, aber seine Kanonen auch Butter erzeugen könnten und Schwarzbrot und Harzer Käse und Würstchen mit Sauerkraut. Hitler erklärte uns, daß braune Hemden besser seien als andere, straffe Hosen besser als schlottrige, Wickelgamaschen lächerlich aussähen wegen des Schienbeins, das am besten im Stiefel schaft verschwinden solle, so wie alles, was unter dem Knie, also niedrig und nicht über dem Knie, also hochstehend ist, sprach über den Friedensvertrag von Versailles, der annulliert werden müsse, erklärte uns, daß eine Null ein Kreis sei mit einem Loch in der Mitte, und zwar einem richtigen Loch, denn halbe Löcher gebe es nicht: »Ein Loch ist ein Loch!«
    Hitler sprach von Krämerseelen und Blutsaugern, vom Besudeln und Zersetzen, erklärte uns, daß die Ehre vererbbar sei, ebenso wie der Mut und die Treue, sprach über die Verschwörung des Weltjudentums, das deutsche Ehre, deutschen Mut und deutsche Treue in seinen Netzen gefangenhielte, damit sie nicht zur Entfaltung kämen.
    Ich hörte kaum zu, denn das kannte ich ja, hatte das alles schon so oft in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört. Ich blickte auf die Totenvögel, blickte auf den Altar aus Eichenholz und Fahnentuch, verglich seine Stirnlocke mit Slavitzkis, seinen Schnurrbart und Slavitzkis. Erst als der Führer über Geschichte

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