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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Siegfried von Salzstange. Der guckte starr geradeaus.
    »Hier sind die Unzufriedenen ganz Deutschlands versammelt!« Das hatte er doch vorhin gesagt? »Hier sind alle versammelt, die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben - vom lieben Gott oder von den Menschen.«
    Ich hätte meinen früheren Deutschlehrer gern gefragt, ob jeder hier, jeder, der hier stand und dem Führer ins Maul guckte oder in die Augen, einen falschen Meister kannte - einen mit einem Stock, aber ich traute mich nicht, denn der Siegfried von Salzstange, der guck te so starr und so seltsam geradeaus. Vielleicht gibt es für die anderen andere Stöcke, dachte ich, es müssen ja nicht unbedingt gelbe oder schwarze sein? Vielleicht grüne oder blaue, rote und lila? Sicher gab es noch viele andere Stöcke, und es gab sie gewiß in allen möglichen Farben. Und als ich das dachte, würgte mich wieder der dicke Kloß im Hals, und ich wollte ihn unbedingt ausspucken. Ich sah auch plötzlich Millionen Stöcke, sie zischten über dem Ölberg, und die Vielfalt der Farben spiegelte sich im Spiegel über uns, der nun nicht mehr blau, sondern ein Farbenmeer war. Kein Wunder, daß der Führer den Regen vertrieben hatte!
    Rechts von mir stand eine alte Frau - eine alte Frau mit grauem Gesicht, ein Gesicht, in das der Stock des lieben Gottes Löcher und Furchen geschlagen hatte, erbarmungslos, als wäre es kein Gesicht, das nach seinem Ebenbild erschaffen wurde. Die Alte bewegte die Lippen, als ob sie betete. Nur einmal verstand ich einengeflüsterten Satz: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.«
    Als die Alte zu beten anfing, fingen auch andere zu beten an. Allmählich kam Bewegung in die Masse. Und dann ... Ja, so muß es gewesen sein. Ganz plötzlich! Plötzlich schrie jemand auf. Und dann fingen wir alle zu schreien an. Unsere rechte Hand. Sie flog plötzlich hoch. Wie von selbst. Wir schrien wie die Wahnsinnigen. Wir schrien: Amen! Amen! Amen! Jeder riß jeden mit. Wir schrien. Wir tobten. Wir weinten. Er war der Erlöser. Jemand in der Menge schluchzte laut auf: »Mein Führer, gib mir auch einen Stock!« Und ein anderer schrie: »Mir auch! Und ich will an dich glauben!« Bald bildeten sich Sprechchöre links und rechts. Und die von links schrien: »Siehe, unser Hintern ist blutig.« Und die von rechts schrien: »Laß uns die wahren Meister sein, und wir wollen an dich glauben!«
    Wissen Sie, wie man einen Kloß ausspuckt? Und wis sen Sie, wie das aussieht, wenn Millionen Klöße ausge spuckt werden und durch die Luft segeln?
    Sie werden natürlich wissen wollen, ob ich Slavitzki den Stock wegnahm - ich meine - später - im richtigen Moment? Oder beide Stöcke, nicht wahr? Und ob ich ihn übers Knie legte, so wie er mich? Und ob ich ihn vergewaltigte, so wie er mich vergewaltigt hatte?
    Nein. Ich ließ ihm die Stöcke, denn sie waren alt und abgenutzt. Ebenso wie Slavitzki. Und schließlich, hatte nicht auch Slavitzki einen falschen Meister gekannt - irgendwann in seinem Leben? Vielleicht kannte er ihn immer noch und konnte ihn nicht loswerden? Denken Sie mal darüber nach! Und dann, wer ist schon Slavitzki? Und gab es denn wirklich nur einen Slavitzki in meinem Leben? Gab es nicht vielmehr viele Slavitzkis? Und war nicht auch der liebe Gott ein Slavitzki? Einermit einem Stock? Und gab es nicht außer ›Seinem‹ Stock, dem Stock des unsichtbaren Slavitzki und dem gelben und dem schwarzen Stock des irdischen Slavitzki - gab es da nicht auch noch andere Stöcke in meinem Leben? Vielleicht keine Hauptstöcke, aber gewiß Nebenstöcke? Nicht lila und rot oder grün und blau, denn das waren ja die Stöcke der anderen, das waren doch auch Hauptstöcke? Ich meine bloß all die farblosen Nebenstöcke, die Stöcke meiner fünf Väter, die mich, Max Schulz, der ein Nichts war, der gar nicht exi stierte, mit einem einzigen Stockschlag in dieses Leben beförderten. Und denken Sie mal an die farblosen Nebenstöcke meiner Fußballgegner oder meiner Leh rer, die mich gequält, oder meiner Schulkameraden, die mich verhöhnt hatten, von denen ich Ihnen noch gar nichts erzählt habe - denn ich kann ja nicht alles erzählen - ich will ja nicht Ihre Geduld auf die Probe stellen. - Und was den gelben und schwarzen Stock anbetrifft, war es denn wirklich nur Slavitzki, der die Stöcke schwang? Half ihm nicht vielmehr auch meine Mutter dabei? Und hatte sie nicht auch meinen fünf Vätern mit ihren Nebenstöcken geholfen? Wo fängt der Reigen an?

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