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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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gehört?«
    Die Gräfin verneint, was ich ja erwartet hatte.
    Ich erkläre ihr: »Zionismus ist keine neue Idee. Sie ist so alt wie das Exil des jüdischen Volkes."
    Die Gräfin sagt: »Also keine neue Idee?«
    Ich sage: »Mein Volk hat den Gedanken an eine Rück kehr ins Heilige Land nie aufgegeben. Wir haben den Gedanken durch die Jahrhunderte genährt. Sogar im Gebet: ›Leschana haba ba Jeruschalajim - nächstes Jahr in Jerusalem!‹«
    Ich sage: »In meinen Büchern steht, daß es nicht nur ein Exil gab. Aber wir reden jetzt vom letzten Exil, und das hat fast 2000 Jahre lang gedauert.«
    Ich sage: »Sie müssen zwei Phasen unterscheiden, liebe Gräfin, ... den messianischen Zionismus und den politischen Zionismus.«
    Ich sage: »Während der ersten Phase warteten die Juden geduldig auf die Ankunft des Messias, der sie ins Heilige Land zurückführen würde. Aber der Messias der Juden hat es nicht eilig. Und wie lange konnten die Juden warten? Sie haben fast 2000 Jahre lang gewartet. Und er kam nicht. Kapieren Sie das, Gräfin? Die Juden warteten wie Schafe, umringt von Wölfen. Und das Schaf hatte Angst und verwandelte sich. Und wurde zum Vogel Strauß. Und steckte den Kopf in den Sand. Und sah die Massengräber nicht. Und die Gaskammern! Kapieren Sie das, Gräfin?«
    »Das kapier ich«, sagt die Gräfin.
    Ich sage: »Der politische Zionismus ist ein praktischer Zionismus. Parole: Nicht mehr warten! Dem Messias vorauseilen! Das Heilige Land auf eigene Faust zurückerobern! Durch politische Schachzüge, durch Masseneinwanderung, wenn es sein muß ... durch Waffengewalt. Kapieren Sie das? Ein Judenstaat! Eine jüdi sche Armee! Eine ständige Heimstätte für das Volk der Juden. Gesetzlich geschützt. Durch unser Gesetz. Das jüdische Gesetz. Nicht das Gesetz der anderen.«
    Ich erzählte der Gräfin dann von Theodor Herzl, dem Begründer des modernen, politischen Zionismusmit praktischem Ziel, erzählte ihr von den ersten Pio nieren aus Rußland, erzählte ihr von der jüdischen Auf bauarbeit, von neuen Siedlungen, erzählte ihr von Trumpeldor, dem einarmigen Volkshelden, der bei Tel Chaj gefallen ist, Trumpeldor, der unermüdliche Kämp fer, Trumpeldor, der Mann, der den ›Hechaluz‹ geschaf fen hat ... die sozialistische Bewegung jüdischer Arbei terpioniere, ... erzählte ihr von der ersten Einwanderungswelle und von der zweiten und von der dritten, erzählte von anderen Einwanderungswellen, erzählte von unserem Kampf während der Türkenherrschaft ... und später ... vom Kampf während der englischen Mandatszeit, erzählte von Kämpfen zwischen Juden und Arabern, erzählte ihr von der ›Haganah‹, der jüdi schen Verteidigungsarmee, erzählte ihr auch von der Balfourdeklaration und dem Versprechen Englands, dem heimatlosen Volk der Juden eine ständige Heimstätte im Heiligen Lande zu garantieren.
    Das alles interessierte die Gräfin wenig. Aber sie hörte mir dennoch zu, kriegte sogar vorübergehend etwas Achtung vor mir, sagte: »Sowas hätt' ich euch gar nicht zugetraut: Eroberung! Aufbau! Armee! Arbeit! -Ich dachte, ihr wärt ein Volk von Feiglingen, Händlern und so weiter.«
    Ich weiß nicht, warum ich die Gräfin beeindrucken will. Habe ich einen Minderwertigkeitskomplex? Und ist dieser Komplex ein typisch jüdischer?
    Ich frage mich: Hast du nicht auch einen Kastrationskomplex?
    Trotzdem setze ich diese Diskussionen fort. Ich zeige der Gräfin mit Blaustift unterstrichene Namen jüdischer Wissenschaftler, Ärzte, Philosophen, Künstler, Schriftsteller, Dichter, jüdischer Humanisten, Erfinder, Philanthropen, Politiker, Revolutionäre, ... zeige ihrNamen, unterstrichene Namen jüdischer Schlosser, Tischler, Schuster, Schneider, Friseure ... mache ihr klar, daß wir Menschen sind wie alle anderen, sage ihr: »Das hat schon Emile Zola während des Dreyfus-Prozesses behauptet!« - Ich aber, ich, Itzig Finkelstein, früher: Max Schulz, weiß, daß es zwecklos ist. Ich kann die Gräfin nicht ändern. Ich werde sie nicht ändern. Ein Antisemit ist wie ein Krebskranker. Was zu tief verankert ist, kann man nicht mehr herausschneiden.
    Der Butler mischt sich nie in unsere Gespräche ein. Wenn er Tee bringt ... oder Kognak ... oder Mettwurstbrötchen ... spitzt er zwar seine Ohren, aber sein Gesicht verändert sich nicht. Er ist eben ein richtiger Butler, der so tut, als ob er nichts hört und sieht. Ein schleichender Chinese.
    Heute stellte ich ihn zur Rede.
    »Sagen Sie ... was halten Sie von unseren

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