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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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›Stürmers‹, des berüchtigten nationalsozialisti schen, antisemitischen Hetzblattes von anno dazumal, sagt zu mir: »Sehen Sie diese Karikatur, Herr Finkelstein ... so sehen die Juden aus ... und sehen Sie nicht etwa so aus ... oder nicht?« ... wird aber immer unsi cherer, da ich alles widerlege, was sie sagt ... zitatenfundamentiert , zitatensicher, zitatenbewußt: »Sehen Sie, Gräfin! Gucken Sie mal dieses Buch an! Und dieses! Und dieses!«
    Die Gräfin sagt: »Krumme Nase! Der Herr Itzig Finkelstein!«
    Ich sage: »Moses!«
    Die Gräfin sagt: »Froschauge! Trotz Brille!«
    Ich sage: »Jesus!«
    Die Gräfin sagt: »Plattfüße! Trotz Wildlederschuhe!«
    Ich sage: »Karl Marx!«
    Die Gräfin sagt: »Rasierter Schädel, um sein Kraushaar zu verleugnen!«
    Ich sage: »Siegmund Freud!«
    Die Gräfin sagt: »Schwarzhändler!«
    Ich sage: »Einstein! - Sehen Sie, Gräfin: das Fundament der abendländischen Zivilisation ruht auf den Schultern jüdischer Köpfe.«
    »Seit wann sitzt die Schulter im Kopf?« fragt die Gräfin. »Sind das nicht jüdische Verdrehungen, Herr Finkelstein?«
    Ich aber lache sie aus, erzähle ihr von Judas Makkabäus ... genannt: der Hammer ... erzähle ihr von den jüdischen Helden in der Festung Massada, erzähle vom Aufstand des Bar Kochba, erzähle ihr vom Exil, erzäh le ihr von der Spanischen Inquisition, erzähle von brennenden Scheiterhaufen, mache ihr klar, wie man für sei nen Glauben stirbt, erzähle ihr von Ausdauer, Märtyrertum, passivem Heldentum, sage zu ihr: »Gräfin ... 2000 Jahre Exil sind für uns nichts, nicht mehr als für euch 2 Jahre, denn wir verstehen es, die Null zu streichen ... auch mehrere Nullen. Was die Nazis gekonnt haben, das können wir auch. Bloß anders. Die streichen menschliche Nullen. Wir streichen die Nullen der Zeit. Nichts hat sich für uns geändert. Hier stehe ich und kann nicht anders! Wer hat das gesagt? Luther hat das gesagt! Ein Antisemit hat das gesagt! Aber das ist mir scheißegal. Denn ich, liebe Gräfin, sage das auch. Hier stehe ich und kann nicht anders! Ich bin Jude. Und ich bin stolz darauf. Und wenn's Ihnen nicht paßt, dann können Sie mich am Arsch lecken!«
    Die Gräfin sagte nur: »Sowas tut man ... aber man sagt es nicht. Keine Finesse, Herr Finkelstein!«
    Der Butler legte mir jeden Morgen die Zeitung links neben den Teller. Aus Gewohnheit lese ich zuerst Berichte über den Massenmord, schneide sie aus, bewahre sie auf, unterstreiche aber vorher, ehe ich sie ablege, die Namen der geschnappten Verbrecher, ebenso die noch gesuchten. Oft stoße ich auf den Namen des Lagerkommandanten Hans Müller, zuweilen auf meinen eigenen.
    Die Gräfin pflegt mich bei dieser Beschäftigung stets spöttisch zu beobachten. Gestern sagte sie: »Herr Finkelstein. Sie sind ein Spinner. Außerdem verspielt wie ein Sechsjähriger. Sie sammeln diesen Unsinn. Und unterstreichen Namen! Übrigens: warum unterstreichen Sie gewisse Namen doppelt?«
    Ich sagte: »Weil diese gewissen Namen zwei Verbre chern aus Laubwalde gehören.«
    »Das weiß ich«, sagte die Gräfin.
    »Hans Müller«, sagte ich. »Und Max Schulz. Zwei schwere Jungen.«
    »Massenmörder«, sagte die Gräfin. »So wie alle ande ren.«
    »Jawohl«, sagte ich.
    »Und wer ist dieser Hans Müller?«
    »Das war der Lagerkommandant. Stand in der Zeitung.«
    »Und wer ist dieser Max Schulz?«
    »Ein kleiner Fisch«, sagte ich. »Nur ein kleiner Fisch.«
    Nach der Lektüre über den Massenmord überfliege ich gewöhnlich kurz die literarische Seite, lese auch Theater- und Kinoanzeigen, studiere den Immobilienmarkt, lese Börsennachrichten, überspringe oder überschlage Artikel, die mich nicht interessieren und lese dann zum Schluß Politisches.
    Besonders interessieren mich die Unruhen in Palästi na. Dort sieht es schlimm aus. Tagtäglich bringt die Presse Berichte mit Schlagzeilen: ›Jüdischer Terror! Aufstand! Frische englische Truppen im Heiligen Lan de angelangt! Die Juden verlangen Selbstbestimmungs recht! Die Juden sind eine Minorität! Die Juden erstreben die Majorität! Massenemigration der Juden trotz Blockade fortgesetzt! Sternbande greift englische Kaserne an, Polizeirevier bei Tel Aviv in die Luft gesprengt! Die Terrororganisation Irgun Zwai Leumi versenkt englisches Schiff! Englischer Hauptmann ent führt! Ausnahmezustand! Arabische Unruhen!‹
    »Was ist dort eigentlich los?« fragt die Gräfin.
    Ich sage: »Die Juden wollen ihr Land zurück. Haben Sie mal was vom Zionismus

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