Der Nebelkönig (German Edition)
zogen dünne Nebelschleier durch
die Luft und verdeckten die obersten Buchreihen, sanken lautlos herab, krochen
über den Boden und hüllten alles in kühle Feuchtigkeit. Sallie ignorierte den
allgegenwärtigen Nebel – wenn er überhaupt ein Gefühl in ihr weckte, dann war
es Zorn. Was fiel dem Nebelkönig ein, sein Haus mit etwas zu füllen, das nach
draußen gehörte!
Sie stieß einen erbitterten
Laut aus und rief: »Uhl!« Zum ersten Mal war es ihr vollkommen gleichgültig, ob
jemand bemerkte, dass sie sich in der Bibliothek aufhielt. Sollte er sich doch
beschweren, und wenn es nach ihr ging, gleich beim Nebelkönig selbst! »UHL!«,
rief sie wieder, noch ein wenig lauter und zorniger. »Wo bist du? Mein Buch ist
verschwunden!«
Aber nicht nur ihr Buch, auch
der Bibliothekar war fort. Sallie ließ sich in seinen Sessel fallen und zog die
Beine auf den Sitz. Sie war so aufgebracht, dass sie am liebsten mit etwas
geworfen hätte. Probeweise nahm sie ein Buch vom Stapel auf dem Tisch und wog
es in der Hand, aber dann tat ihr das schöne ledergebundene Ding leid und sie
legte es wieder hin. Was konnte das Buch dafür, dass sie wütend war? Der
Apotheker hatte sie geärgert, aber beinahe noch mehr ärgerte sie sich über Luan
und Kaltrina und über ihren lieben Raben, der ihr so unmögliche Aufgaben
auftrug.
Das Kinn in die Hand gestützt
starrte sie grübelnd auf die Bücherregale. Uhl war nicht da. Kaltrina und Luan,
die sie immer im Garten gesucht und gefunden hatte, waren irgendwo draußen im Nebel,
und sie wusste nicht, wie sie sie finden sollte. Der Rabe kam immer nur zu ihr,
wenn es ihm passte, und sie wusste nicht, wo er sich in der Zwischenzeit
aufhielt. Sie hätte sich gerne mit der Katzenkönigin unterhalten, aber ohne das
Buch war auch das nicht möglich.
Der magische Transport! Sallie
richtete sich auf und sank gleich wieder entmutigt zurück in den Sitz. Die
Wolfsköpfe waren fort. Ohne sie konnte sie nicht in das seltsame Zwischenreich
gelangen. Nun war sie ganz auf sich selbst gestellt, und niemand war da, mit
dem sie reden konnte, außer dem Apotheker und Redzep irgendwo tief unten im
Keller.
Mit einem Seufzen schob sie
ein paar Bücher zu einem Stapel zusammen. Über ihr flatterte etwas durch das
Fenster und kam durch den Nebel zu ihr herabgeschwebt.
»Uhl«, rief sie erleichtert,
als der Schemen sich zu dem vertrauten braunen Vogel verdichtete. »Ich habe
dich gesucht!«
Die Eule landete auf ihrem
Stuhl und begann sich zu putzen. »Schlimmer Nebel«, sagte Uhl. »Feuchte Federn
und Stockflecken in den Büchern.«
»Uhl, hör mir doch zu«, sagte
Sallie. »Mein Buch ist verschwunden!«
Die Eule blickte auf.
»Verschwunden? Wohin?«
Sallie stampfte ungeduldig mit
dem Fuß auf. »Wenn ich das wüsste, wäre es ja nicht verschwunden.«
Der Vogel machte pikiert:
»Gnffff« und putzte sich weiter. »Du hättest eben besser darauf aufpassen müssen.«
Sallie hätte sich am liebsten
die Haare gerauft. »Ich habe gut darauf aufgepasst. Wahrscheinlich hat es mir
jemand gestohlen!«
In dem Augenblick, in dem sie
das aussprach, erschien es ihr so klar und deutlich, dass sie beinahe gelacht
hätte. Natürlich, jemand hatte das Buch gestohlen! Und wer konnte das schon gewesen
sein, wenn nicht der Apotheker, in dessen Räumen sie ihre Sachen verwahrte?
»Das ist dumm«, sagte der
Bibliothekar verdrießlich. »Jetzt musst du eben alleine zurechtkommen. Und ich
schlage vor, dass du dich beeilst, denn wenn dieser verflixte Nebel erst einmal
alles ausfüllt, wirst du gegen seinen Herrn und Meister nichts mehr ausrichten
können.«
»Ihr müsst mir helfen«, sagte
Sallie. »Ich kann das nicht alleine.«
»Du kannst es und du wirst es
tun«, erwiderte der Vogel. »Wir haben dich lange genug darauf vorbereitet.
Alles ist wohldurchdacht und gut geplant – glaube ich.« Er klappte ärgerlich
mit dem Schnabel. »Ich kann mich nicht erinnern, aber es MUSS gut geplant worden
sein. Warum wären wir sonst hier? He?«
Sallie schüttelte sich. »Wo
sind Kaltrina und Luan? Hol sie her. Ich muss mit euch beratschlagen, wie wir
vorgehen.«
Uhl zuckte mit den Schultern.
»Sie sind irgendwo da draußen im Nebel. Ich habe schon nach ihnen gesucht, aber
in der dicken Suppe findet noch nicht einmal eine Eule mehr ihr Abendessen.
Oder sonst etwas. Ich bin froh, dass ich nach Hause gefunden habe.« Er
schniefte beleidigt und flog in eins der Bücherregale. »Lass mich schlafen. Ich
bin ein alter Mann, ich brauche meinen
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