Der Nebelkönig (German Edition)
hatte, der verzweifelt nach einem Weg hinaus gesucht
haben musste, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Nun, da sie wusste,
dass dieses riesige Haus sie so unabwendbar und unüberwindbar einschloss, war
es ihr, als sei es die allerwinzigste Kerkerzelle, in der man kaum Luft holen
oder die Arme ausbreiten konnte. Wie mochte es sein, sich so eingeschlossen zu
wissen und Jahr um Jahr ausharren zu müssen, ohne dass diese Qual je endete?
Sallie blieb stehen und fasste
erneut nach dem Kieselstein. »Ich muss es beenden«, sagte sie. »Das hier muss
ein Ende haben. Und wenn der einzige Weg, meine Freunde zu befreien, über eine
Begegnung mit dem Wolf führt, dann werde ich das tun.«
»Und dabei sterben«, fügte
eine Stimme hinzu.
Sallie machte einen Satz, bei
dem ihre Kerze beinahe erloschen wäre. »Redzep, du hast mich zu Tode
erschreckt!«, rief sie vorwurfsvoll und erleichtert zugleich aus.
Der Junge kauerte auf einem
Felsbrocken, dicht in seine Lumpen gehüllt, und sah blinzelnd zu ihr auf. »Du
kannst nicht mit ihm kämpfen«, sagte er. »Du bist nicht stark genug. Die
Katzenkönigin konnte es, aber er hätte sie beinahe getötet. Du bist nicht die
Katzenkönigin. Noch nicht.«
Sallie hockte sich neben ihn.
»Noch nicht?«, fragte sie.
Er zuckte unbeholfen mit den
Achseln. »Du könntest es werden«, sagte er. »Wenn ER dich am Leben ließe. Aber
wir haben keine Zeit mehr, Sallie. Sieh dich um. Er hat sie alle getötet und
nur wir zwei sind übrig. Was können wir schon ausrichten?«
Sallie wollte ihm
widersprechen. Nicht dass sie selbst so zuversichtlich war, einen Kampf gegen
diesen mächtigen Zauberer gewinnen zu können, aber die schiere
Hoffnungslosigkeit des Jungen forderte den Widerspruch geradezu heraus. Sie
beugte sich vor, weil sie sein Gesicht sehen wollte, und ihr Blick fiel auf
einen Gegenstand, den Redzep mit einer hastigen Handbewegung zu verbergen
suchte.
»Mein Buch!«, rief Sallie
überrascht und empört aus. Sie griff danach, wischte Redzeps ängstlich fuchtelnde
Hand beiseite und zog das Büchlein zwischen seinen Lumpen hervor. »Wie kommst
du an mein Buch?«, fragte sie und hielt es ihm anklagend unter die Nase.
»Ich habe es gefunden«,
verteidigte er sich kläglich. »Sei nicht so wütend, Sallie. Ich habe es – dort
drüben habe ich es gefunden!« Er zeigte mit einem zitternden Zeigefinger ins
Dunkel.
Sallie verschlug es den Atem
ob dieser unverfrorenen Lüge. »Du hast es mir gestohlen!« Sie drückte das Buch
an ihre Brust. »Wie konntest du – aber ich hatte es in meiner Kammer. Wie bist
du in meine Kammer gekommen?«
Er richtete sich in einem
vergeblichen Versuch, Haltung zu bewahren, auf. »Ich gelange überall hin«, erklärte
er stolz. »Ich bin der König der Ratten. Niemand kann mich aufhalten.«
Dann sank er wieder jämmerlich
zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. »Sei nicht so böse auf mich,
Sallie«, flehte er. »Ich musste es haben. Ich muss doch mit ihr sprechen und
sie um Vergebung bitten!«
Sallie klammerte sich immer
noch an ihr Buch. »Mit ihr? Mit der Katzenkönigin?«
Er nickte, ohne die Hände vom
Gesicht zu nehmen.
»Wofür willst du sie um Vergebung
bitten?«
Er wand sich und jammerte
wortlos.
Sallie schüttelte den Kopf.
Sie hatte ihr Buch zurück, das war das Wichtigste. Sie legte es auf den Schoß
und schlug es auf.
»Redzep«, ächzte sie. »Was
hast du getan?« Hastig blätterte sie durch die Seiten. Jede einzelne davon war
besudelt, bekrakelt, mit schwarzen Flecken übersät, zerrissen, löchrig,
beschmutzt, versengt ... bis zur allerletzten Seite, keine einzige war
unberührt von der Zerstörung geblieben. Die Katzenkönigin würde auf diesem Wege
nie wieder mit ihr sprechen können.
Sallie legte die Hand vor die
Augen. »Warum hast du das getan?«
Sie spürte, wie der Junge
näher kroch und seine Hand sie zaghaft und demütig am Knie berührte. »Ich
musste doch mit ihr sprechen«, sagte er. »Aber sie hat mir nicht geantwortet,
Sallie!«
Sallie wischte sich die Augen
und straffte die Schultern. Es war, wie es war, und Tränen oder Geschrei würden
das Geschehene nicht rückgängig machen. Sie blickte auf Redzeps gesenkten Kopf
nieder.
»Warum willst du so dringend
mit ihr sprechen?«, fragte sie erneut.
Der Junge, der wohl eher mit
wütenden Worten gerechnet hatte, blickte nicht auf. »Sie muss mir vergeben«,
flüsterte er. »Wir haben sie verraten, Sallie. Sie war unsere Freundin, aber
wir haben sie verraten. Mein
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