Der Nebelkönig (German Edition)
Schlaf. Weck mich, wenn du den
Nebelkönig besiegt hast.«
Sallie wartete, ob er
vielleicht doch wiederkam, dann stand sie auf und ging, nicht ohne »Ihr seid
doch alle verrückt!« gerufen zu haben.
Sie stapfte den langen Weg zur
Kellertreppe hinunter und verfluchte die verschwundenen Wolfsköpfe. Angenommen,
sie wäre bereit den König zu bekämpfen. Wie sollte sie zu ihm in den Turm gelangen?
Keine Tür, keine Treppe führte dorthin.
Sallie blieb an der
Kellertreppe stehen. Durch die Türöffnung griffen Nebelfinger nach ihr. Sie sah
sich um, horchte, runzelte die Stirn. Was war mit den Küchengeräuschen, die
hier sonst so deutlich zu vernehmen waren? Das Scheppern und Klappern der Töpfe,
das knallende Geräusch der Hackmesser, das Geschreider Köche, Gelächter,
Schritte, Wasserrauschen – nichts davon hörte Sallie. Es war so still, dass sie
beinahe glaubte, das sanfte Ziehen des Nebels erlauschen zu können.
Sie ging zurück zur Küchentür
und öffnete sie. In den Öfen brannte knisternd das Feuer, Töpfe standen auf dem
Herd, in denen leise etwas kochte, auf den Hackbrettern lagen Kräuter und
Wurzeln neben Messern, die gerade noch jemand in der Hand gehalten hatte,
hinten am Fenster ruhte eine beinahe fertig gestopfte Gans und daneben lag ein
Braten, der darauf wartete, mit Honig bestrichen und in den Ofen geschoben zu
werden – und nirgendwo war auch nur eine Menschenseele, die sich um all diese
Angelegenheiten kümmerte.
Sallie schluckte einen Kloß
hinunter, der ihr plötzlich in den Hals stieg. Sie zupfte an ihrem Kleid und
fühlte das tröstlich warme Gewicht des Kiesels, der an seiner Schnur um ihren
Hals baumelte. Unwillkürlich zog sie ihn hervor und schloss die Finger darum.
»Wo sind sie nur alle hin?«
»Fort«, flüsterte es neben
ihr. Sie fuhr herum, aber da war niemand. »Alle fort, verschwunden, gefressen
im Nebel«, flüsterte jemand hinter ihr. Sallie drehte sich wie ein Kreisel,
aber sie war und blieb allein.
Sie flüchtete aus der Küche
und zur Kellertreppe. Von der Anrichte hatte sie sich noch ein Bündel Kerzen
gegriffen, von dem sie nun eine mit zitternden Fingern entzündete.
Sallie stieg langsam tastend,
Schritt für Schritt die Kellertreppe hinunter. Sie schützte die Kerzenflamme
mit der hohlen Hand, weil der lästige Nebel bestrebt war, sie zum Flackern und
Erlöschen zu bringen.
Sie fröstelte, während sie am
Weinkeller vorbei zu dem Durchlass lief, hinter dem es noch weiter hinab ging.
Der kriechende Nebel reichte ihr bis zur Hüfte und sie watete darin wie in
einem schwebenden Bach.
Dann erreichte sie die alte
Treppe, die hinunter in Redzeps Reich führte. Die Stufen waren nicht zu sehen
und Sallie zögerte vor dem nebelgähnenden Durchgang. Ein Moment der beißenden
Angst, der ihre Glieder erstarren ließ, dann rief sie sich zur Ordnung, schalt
sich ein zimperliches Küchenmädchen, zog ihr Schultertuch enger und stapfte
entschlossen die unsichtbaren Stufen hinunter.
Dunkel und feucht. Leise
jammernde und stöhnende Laute, die ganz sicher nur der Luftzug in den Gängen
und Höhlen des Kellers unter dem Keller verursachte. Zumindest redete Sallie
sich das ein, damit ihr die Laute nicht noch mehr Angst einjagten, als sie es
ohnehin schon taten.
Das schwache Licht der Kerze
durchdrang den dichten Nebel kaum, aber es war tröstlich, nicht ganz und gar im
Dunkeln zu sein. Sallie umklammerte die Kerze und hielt mit der anderen Hand
den warmen Kieselstein fest, der in ihrer Hand leise zu atmen schien. Sein
sanftes Pulsieren wies ihr den Weg zu Redzep, redete sie sich gut zu. Schritt
für Schritt drang sie tiefer in die Unterwelt, wandelte in einer Perle aus
schummrigen Licht.
»Redzep«, rief sie von Zeit zu
Zeit, wenn sie das Gefühl hatte, an einer Öffnung vorbeizukommen, weil ein
modriger Luftzug sie anhauchte. »Redzep, wo bist du? Ich bin es, Sallie.«
Das heiße Wachs lief ihr über
die Finger. Die Kerze brannte zu einem kleinen Stumpen herab, und immer noch
wanderte sie durch die neblige Dunkelheit. Sie blieb stehen und entzündete die
nächste Kerze, ging weiter. Und während sie so Fuß vor Fuß setzte, dachte sie
nach. Das Haus war ein Gefängnis – für Luan und Uhl, Kaltrina und Redzep und
sogar für den Apotheker. Für sie selbst? Ja, sicherlich auch für Sallie, die
hier durch den Keller wanderte und ein Leben lang hätte weiterwandern können,
ohne einen Ausgang zu finden. Sie dachte an die Gänge, die im Nichts endeten
und die jemand gegraben
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