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Der neue Daniel

Titel: Der neue Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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nächsten Tage, als er die kleine Einfahrtsallee bis zum Postkasten hinunterschritt, schon auf dem halben Wege, daß er keine Briefe und keine Zeitungen vorfinden würde.
    Siehe da, der Postkasten war leer.
    Die Zeitung erschien zwar nach einigen Tagen wieder und war nur durch ein Versehen ausgeblieben. Aber mit der übertriebenen Hitze, mit der sich seine Phantasie sofort auf Kleines stürzte, um es zu verzerren, bemächtigte er sich auch dieses Vorfalls, um Gedanken daran zu spinnen.
    Er hatte noch immer eine Art Fühlung mit der Außenwelt– (wenn sie auch ganz unpersönlich war) – durch die Zeitung empfunden. Als ihm plötzlich auch dieses Bindeglied zerhackt schien, erkannte er, mit betäubendem Schrecken, den Wert dieser kümmerlichen Abhängigkeit... Sollte er von jetzt ab jeden Morgen seine entnervende Selbstzerfaserung wieder betreiben müssen??
    Mit einem toten Blick in den leeren Postkasten ging er den Weg halb zurück und setzte sich mit tödlich resignierter Bewegung auf den Boden zwischen Brombeersträucher; unfähig für einen Moment, das Haus wieder zu betreten. Er blickte wie ein gehetztes Tier umher, ob nicht irgendwo ein Ausweg sei...
    Drüben bewegte sich der graugelockte Kopf der Miß Palmer wie immer rhythmisch hinter dem Verandageländer hin und her. Die gelbe Straße spann sich schnurgerade zwischen den Fichten weiter. Der Himmel flammte.
    Er schloß die Augen und eine große Stille entstand in ihm. Ihm schien, als sitze er als einzig fühlendes Wesen inmitten einer Wüste, die keine Zungen hatte.
    Ferne, fühlte er, gab es einen großen Ring, einen unsichtbaren Ring und dieser war in weitem Umkreis um ihn geschlossen. Zuweilen durchlief ein Klirren diesen Ring: traumhaftes Zwiegespräch von Metall. Poltern geschah, stufenweise abklingend. Die Erde war verödet, unterwühlt, dem Metall und dem starren Klirren ausgeliefert: Schwingungen aus murrenden Schlünden, in denen Menschen zu Millionen verkamen wie Geschmeiß. Sie durchbebten den Umkreis, und sein Herz schien stillzustehn.
    Ihm schien, als ob dies alles sich erbarmungslos, mit gräßlicher Zielbewußtheit um ihn zusammenziehe, in entsetzlich langsamen, lähmenden Pausen; als ob das ferne Klirren es auf ihn abgesehen habe; als ob er als letztes Opfer, als letzte freie Intelligenz sich bäumen müsse gegen den Tod unter unabwendbarer Walze... Das war die Wand, die sich herzuschob; die aus Fanatismus, Hetze, Verlogenheit und widrigem Nichtverstehenwollen zusammengetragene Wand, in deren Bereich alles Lebendige, harmlos Produktive, Unverseuchte zerstampft wurde wie mit riesigen Hämmern.
    Das Langsame in der Entfaltung der Gewalt war das Furchtbare. Wäre sie gekommen als befreiendes Gewitter, er hätte sie begrüßt. So aber fühlte er ihre zähen, gewaltigen Kräfte und Maße ausbalanziert. Sie schwankten träge gegeneinander und vermochten sich doch nicht von ihren granitnen Sockeln zu stürzen. Sie lauerten einanderdie fortschreitende Zersetzung ab... Ein befreiender Stoß schien undenkbar ...
    »Warum lese ich überhaupt noch Zeitungen«, dachte er. Kopftitel amerikanischer Blätter, mit fetten Buchstaben in sein Hirn gebrannt, traten in glühenden Gruppen hervor. Und was meldeten sie? Woran mästeten sie sich seit Wochen? – –: Geplänkel aus Schützengräben. Attacken der Russen in Wolhynien, im Rigasektor; halb ermattetes Erstarrtsein, nervöser Niederbruch der Italiener; Stellungskämpfe bei Verdun, an der Somme, wo der große Vorstoß der Alliierten » The Big Push «, im Blut erstickte... All dieses bildete eine mächtige Atempause, die eines schweißbedcckten Giganten in der Arena. Halb hat er seinen Gegner mit sich gerissen; nun hockt er am Boden und pumpt sich die Lunge wieder voll, ehe er ihn in die entscheidende Position herumreißen kann ... Während dieser Atempause hüpft der Unparteiische, der mit dem Spitzbart und den blanken Semitenaugen, um das keuchende Paar herum und zählt. Das war der Journalismus der Welt; die Zeitungsmacht, die mit der Uhr in der Hand und dem Daumen am Pulsschlag der Telegraphen die Wochen zählte; die Monate zählte: ... bis diese gräßliche Vergeudung von Kräften durch eine Entscheidung vielleicht so etwas wie einen Sinn erhielt...
    Erwin riß die Augen wieder auf. Tödliche Einförmigkeit schloß sich über ihm.
    »Ich muß lesen«, dachte er. »Ich muß dieses verdammte Weltgeschehen, das mit mir Spielballtreiben will, ignorieren können. Hätten diese Tausende hier den Mut, es zu

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