Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
Rumänien ein »Schutzraum für Kinder« entstehen. Schon als Kind hatten mich die historischen Kirchenburgen fasziniert. Sie strahlten Schutz aus und eine Burg hat für Kinder und Jugendliche immer etwas Geheimnisvolles. Mit meinem Team besprach ich den Plan – Kopfschütteln in Tutzing: Nicht noch ein Projekt, und vor allem nicht in einem Land mit einem Image wie Rumänien! Aber ich wollte mich nicht abbringen lassen und nahm auf Empfehlung eines Freundes Kontakt zur damaligen Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner auf. Sie ist seit Jahren in Rumänien engagiert und kennt die politischen Strukturen sehr gut. Ein schnelles Treffen folgte und schon bald hatten wir einen Ansprechpartner in Siebenbürgen, der die Kirchenburgen aus dem Effeff kannte.
Ich flog erneut nach Sibiu (Hermannstadt) und schlängelte mich mit dem Auto durch die Landschaft: das wunderschöne Siebenbürgen. Jeden Tag präsentiert sich die Landschaft in neuem Licht und diese Region gehört zu den reizvollsten, die ich kenne. Es gibt keine befestigte Straße nach Radeln. Man biegt von der Hauptstraße ab und fährt auf einem Schotterweg. Plötzlich erscheint das Dorf wie aus dem Nichts. Mir war sofort klar, dass dies der Ort für das Projekt war, den ich suchte. Die Struktur war hervorragend. Radeln hat rund 400 Einwohner, zum Großteil Sinti und Roma, Menschen, die unter dem Ceaucescu-Regime aus den Städten in die Dörfer vertrieben wurden. Sie wurden im Kommunismus wie Menschen zweiter Klasse behandelt und haben ein Recht auf Unterstützung. Ich wurde herzlich empfangen. So ist es bis heute geblieben, auch wenn die wirtschaftlichen Umstände und das soziale Gefälle unser Miteinander von Zeit zu Zeit belasten.
Zurück in Deutschland folgten weitere Termine. Ich lernte den rumänischen Botschafter kennen und Lazar Comanescu wurde zu einem Freund und wertvollen Unterstützer. Über den damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, bekam ich bald einen Kontakt zum zuständigen Bischof in Rumänien. Die Besitzverhältnisse waren schnell geklärt: Die Kirchenburg gehörte zur evangelischen Kirche. Wie in vielen Ländern hatte und hat auch die Kirche in Rumänien mit Kirchenaustritten zu kämpfen. Die Gelder waren knapp, und die Kirche konnte nicht länger Mittel zur Instandhaltung des Objektes in Radeln bereitstellen. Ich traf den zuständigen Bischof Christoph Klein, ein aufgeschlossener Mann, der sofort zu einem Verbündeten wurde. Wir schlossen einen langfristigen Pachtvertrag. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit der Unterschrift war besiegelt, dass wir uns langfristig engagieren würden.
Sein Nachfolger, Bischof Guib, war es im Übrigen, der bei den Eröffnungsfeierlichkeiten im Sommer 2011 die Einrichtung segnete. Nach vielen Jahren fand erstmals wieder ein Gottesdienst in der Kirche in Radeln statt. Wahrscheinlich der erste ökumenische Gottesdienst überhaupt. Ältere Dorfbewohner hatten Tränen in den Augen, als die Kirchenglocke wieder schlug.
Doch zunächst arbeitete mein Team auf Hochtouren. Uns war bewusst, dass es einen immensen Arbeitsaufwand bedeuten würde, denn es ging nicht nur darum, die Kirchenburg umzubauen, sondern darum, das Projekt erfolgreich in der dortigen Gesellschaft zu etablieren. Wir mussten die Dorfgemeinschaft ins Boot holen, sie musste ein aktiver Bestandteil unserer Überlegungen werden. Vor allem aber wollten wir das Dorf unterstützen und die Infrastruktur verbessern. Bis heute gibt es keine Kanalisation oder Müllabfuhr. Die Verbesserung der hygienischen Zustände des Dorfes hatte oberste Priorität. Schon allein, um die Gesundheit der Kinder- und Jugendgruppen, die nach Fertigstellung des Projekts kommen sollten, nicht zu gefährden.
Immer mehr Partner sprangen auf und versprachen Hilfe. Freunde, denen ich von unserem neuen Projekt erzählte, spürten die Begeisterung, die mich antrieb. Mir war klar, dass diese Mammut-Aufgabe nur in einem Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und privaten Investoren zu stemmen war. Ich wurde plötzlich Fürsprecher einer Dorfgemeinschaft, die mir mehr und mehr ans Herz wuchs. Ich spürte aber auch bei vielen Begegnungen in Deutschland, welch schlechtes Image Rumänien hatte. Korruption und Kriminalität – dies waren nur zwei Schlagworte, die mir ständig um die Ohren flogen. Rumänien ist nur zwei Flugstunden von Deutschland entfernt, nicht weiter als Mallorca. Aber in unseren Köpfen ist es eine Weltreise dorthin.
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