Der Nobelpreis
vierzehnjährigen Mädchen?
Wenn er nur mit mehr Überlegung gehandelt, sie zuallererst von der Schule abgeholt hätte …!
Und dann?, sagte ein anderer, fatalistischer gestimmter Teil von ihm. Dann wären sie nachts gekommen, wären in dein Haus eingedrungen und hätten dich mit Waffengewalt gezwungen. Diese Leute, das hatten sie gezeigt, waren zu allem entschlossen und schreckten vor nichts zurück.
Er blieb an der Galerie stehen, sah hinab ins Foyer. Die erhebende Stimmung, die ihn in den vorangegangenen Jahren an diesem Tag und an diesem Ort immer erfüllt hatte, würde sich heute nicht einstellen. Heute kam ihm das alles absurd vor, wie ein belangloses Theaterstück, in dem er sich verpflichtet hatte, eine unbedeutende Nebenrolle zu spielen. Und war es nicht genau das? Eine im Grunde profane Prozedur, ein ausgeleiertes Ritual um den Vorgang, einen Betrag von rund sechzehn Millionen Schwedische Kronen an einen oder mehrere Leute zu verschenken.
Geld. War es nicht von Anfang an das Geld gewesen, das dem Nobelpreis seinen Nimbus verliehen hatte? Die Dotierungen der ersten Jahre hatten im Schnitt fünfundzwanzig Jahresgehältern eines Universitätsprofessors entsprochen – eine unfassbare Summe. So unfassbar, dass sie sich alle dem Willen des toten Nobels gebeugt hatten: die Schwedische Akademie, das Norwegische Parlament, das Karolinska-Institut. Sogar der schwedische König hatte sich für die Zeremonien vereinnahmen lassen, ohne dass heute noch jemand die Frage stellte, warum eigentlich.
Geld. Drei Kollegen aus der Gentechnik, mit denen Hans-Olof sonst nie zu tun hatte, gingen hinter ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, und er schnappte ein paar Fetzen ihres Gesprächs auf, das sich um Aktienkurse und die Performance von Investmentfonds drehte. Es schien kein anderes Thema mehr zu geben auf dieser Welt.
Er ging in Richtung der Speiseräume, wo erfahrungsgemäß Kaffee bereitstand. Als er sich der Lounge näherte, hörte er ein paar Leute über die bevorstehende Abstimmung sprechen, in einem entsetzlich gelangweilten Ton, so, als sei sie nichts Erhabenes, Großartiges, Geschichtsträchtiges, sondern nur eine belanglose, höchst lästige Formalität. Er musste stehen bleiben. Nein. Er würde es nicht ertragen, diesen Kollegen zu begegnen.
Also ging er zurück. Plötzlich war ihm, als drängten von überall her Satzfetzen fremder Gespräche auf ihn ein, und in allen ging es um Geld, um Geschäfte, um das, was ein Boot kostete oder ein neues Auto oder ein Haus. Er sah hinab ins Foyer, in die Gesichter, und las nur Banalität darin, pure Stumpfsinnigkeit, bar jeden Empfindens für das Erbe, das ihnen anvertraut war.
Warum hatte es ihn treffen müssen? Warum nicht einen von den anderen? Jeder von denen, so kam es ihm vor, hätte das Geld einfach genommen, und niemand hätte leiden müssen.
Kristina, dachte er. Ich tue, was sie verlangen. Heute Abend bist du wieder zu Hause.
Es war noch zu früh, um in den Versammlungsraum zu gehen, aber er hielt es draußen nicht mehr aus. Es war nicht der Drang, pünktlich zu sein, nicht einmal Ungeduld, es war das Bedürfnis nach einem Rückzugsort, das ihn bewegte. Durch die offene Tür hindurch leuchtete der Raum, dessen Wände tiefrot waren, wie eine frisch geöffnete, hell ausgeleuchtete Operationswunde – kein Anblick, der einen Mediziner schrecken konnte. Hans-Olof trat an das Schreibpult neben dem Eingang und setzte seinen Namenszug an die dafür vorgesehene Stelle der Anwesenheitsliste. Mit einer zweiten Unterschrift auf einem anderen Formular bestätigte er, sich der Verpflichtung bewusst zu sein, über den Verlauf der Abstimmung und alle Ereignisse während der Versammlung fünfzig Jahre lang Stillschweigen zu bewahren. Dann trat er ein – und endlich kam es doch noch auf, jenes köstliche Gefühl, mit dem andere eine Kirche betreten mochten, das für ihn aber für immer mit den Naturwissenschaften verbunden sein würde. Hier betrat er ihren Olymp, und es tröstete ihn, dass er trotz allem imstande war, sich davon anrühren zu lassen.
Die Mitte des Raumes nahm ein gewaltiger runder Tisch aus geöltem Kirschholz ein, der eigens für die Versammlungshalle entworfen worden war, wie das gesamte Mobiliar des Nobelforums. Dennoch fand nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten daran Platz. Am Tisch saßen in der Regel die fünf ständigen und die zehn beigeordneten Mitglieder des Komitees, außerdem einige der älteren oder berühmteren Kollegen sowie ein paar, die
Weitere Kostenlose Bücher